Universität des Saarlandes, FR 8.1 Germanistik
Hauptseminar "Volksetymologie"
Dr. Peter Godglück, SS 1999

"Volksetymologie-Analyse mit wortgrammatischen Merkmalsstrukturen"


Inhaltsübersicht


0. Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Phänomenen aus dem Bereich der sogenannten "Volksetymologie" (VE) und versucht, mit einem formalen Modell linguistischer Worteigenschaften zur Analyse von VE-Prozessen beizutragen.

Als "Volksetymologie" werden Vorgänge und Erscheinungen zusammengefasst, die bei der Eingliederung von (partiell) unverstandenem bzw. unmotiviertem Sprachmaterial in ein vorhandenes Sprachsystem auftreten können. Nach Olschansky (1994, 92) ist für VE-Prozesse kennzeichnend, dass gewisse sprachliche Gesetzmäßigkeiten dabei unbeachtet bleiben und das betroffene Sprachmaterial "in etymologischer, diachronischer Hinsicht nicht korrekt" umgedeutet wird (ebd.). Panagl (1982, 18) spricht von der "Heuristik des naiven, linguistisch ungebildeten Sprechers, sich spröde, fremdartige, undurchsichtige Wörter durch assoziative Verknüpfung oder lautliche Adaptierung transparent zu machen, neu zu motivieren und dem Regelwerk seiner Grammatik einzugliedern." Das Sprachmaterial kann aus anderen Sprachsystemen eingeflossen sein oder im Bestand der eigenen Sprache seine Bedeutung verloren haben. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass das betreffende Wort oder die Redewendung im benutzten Sprachsystem eine gewisse "Isoliertheit" aufweist. Was darunter genau zu verstehen ist, wird in Kapitel 2 thematisiert.

Neben der Herkunft des umzuformenden Sprachmaterials (nativ vs. entlehnt) ist auch die Ebene, auf der der Sprachwandel stattfindet, von zweischichtiger Art. Als "Mikroebene" kann man die individuell beim einzelnen Teilnehmer der Sprachgemeinschaft ablaufenden Prozesse bezeichen. Diese können Wirkung auf die "Makroebene" des überindividuellen Sprachsystems haben, wenn sie Akzeptanz und Verbreitung finden. Dabei zeigt sich, inwiefern die subjektiven Prozesse sozusagen objektiv naheliegende Abläufe darstellen.

Im Seminar wurde der VE-Begriff im Sinne einer "individuellen Strategie der Rezeption zur Sicherung von Verständnis" definiert, die durch Angleichung der zu rezipierenden Sprachelemente an einen bereits verfügbaren Sprachapparat vollzogen werde (Godgück, einleitendes Thesenpapier, S. 2). Aus dieser primär die Mikroebene ansprechenden Definition wurde dann abgeleitet, dass VEn durch subjektive, implizite und und damit der späteren Analyse prinzipiell unzugängliche Ähnlichkeitsurteile zustande kommen. Damit wurde das grundsätzliche Dilemma der VE-Analyse beschrieben.

Auf der Makroebene ist VE ein diachron zu betrachtendes Phänomen im Bereich des sprachgesellschaftlichen Sprachwandels. Sie wird auch auf dieser Ebene getragen von sprachbegleitenden assoziativen Interpretationen, die in der Sprachgemeinschaft derartige Akzeptanz und Verbreitung finden müssen, dass die "unkorrekte" Umdeutung als solche gar nicht mehr bemerkt oder wohlwollend übernommen wird. Es ist schwer, klare Regularitäten zu finden, nach denen dabei Ähnlichkeitsurteile zustande kommen und Akzeptanz finden. Die Argumentation in dieser Arbeit wird sich auf wenige Beispiele stützen müssen und kann nicht auf die allgemeine Theorie dieser assoziativen Interpretationen eingehen.

VE-Vorgänge sollen hier vereinfacht als Veränderungen von Wortstruktur beschrieben werden. In der vorliegenden Arbeit werden Worte diachron als wandlungsfähige Merkmalsbündel verstanden. Synchron konstatierbare Wortverwendungen werden jeweils als feste, möglicherweise lückenhafte Merkmalsausprägung analysiert. Vermutungen über Dependenzen zwischen den Merkmalsebenen und über Inferenzmittel, die beim "Auffüllen" lückenhafter Merkmalsstrukturen (implizit) zur Anwendung kommen, sollen am formalen Modell expliziert werden.

Der Versuch, mittels Formalisierung allgemeinen VE-"Algorithmen" nachzuspüren, muss allerdings Utopie bleiben. Dazu ist das empirische Material zu dünn, sind die mentalen Prozesse zu unzugänglich und erscheinen die einwirkenden Faktoren zu arbiträr.

Im ersten Kapitel der Arbeit werden die Ebenen der wortbezogenen formalen Linguistik auf Aspekte untersucht, die in die Merkmalsbeschreibung Eingang finden sollten. Zur wortgrammatischen Fundierung wurde vor allem der neuere "Grundriß der deutschen Grammatik" von Peter Eisenberg herangezogen (Eisenberg, 1998).

Im zweiten Kapitel wird das Modell vorgestellt, das die genannten Merkmale zu bündelartigen Strukturen zusammenfasst und Teilspezifikationen sowie die Angabe von Merkmalsdependenzen ermöglicht. Dabei werden einfache Varianten formaler Merkmalsstrukturen verwendet, die in komplexerer Form auch für entsprechende Grammatikformalismen Verwendung finden (vgl. Shieber, 1986). Mit Hilfe des Beschreibungsmodells werden dann einige typische VE-Beispiele analysiert. Die dabei auftretenden Probleme werden im dritten Kapitel zusammengefasst, wo schließlich auch Perspektiven für die Weiterentwicklung des vorgestellten Modells gegeben werden.

1. Ebenen formaler Wortbeschreibung

Einem Wort kann auf mehreren linguistischen Ebenen eine formale Strukturbeschreibung zugewiesen werden: Lautliche Struktur und Segmentierung, Aufbau aus Morphemen, syntaktische Merkmale, Wortbedeutung, Stilistik und Konnotationen sowie Orthographie sind wichtige Felder der Wortlinguistik.

Nicht alle Strukturmerkmale sind für eine formale VE-Analyse erfassbar bzw. nutzbar. Stilistisch-konnotative Aspekte sind historisch nur schwer formalisierbar und sollen deshalb hier ausgelassen werden. Für die anderen Ebenen wird jeweils gesondert untersucht, welche Merkmale relevant sind.

Die relevanten Merkmale werden später in der formalen Merkmalsstruktur mit Kurzbezeichnern aufgelistet, denen im konkreten Beispiel dann Ausprägungen zugeordnet werden müssen. Die Beispiele werden in mehreren Entwicklungsstadien untersucht und jedem Stadium eine Merkmalsstruktur zugeordnet. Wenn im folgenden von "Wortmerkmalen" die Rede ist, sind damit immer Eigenschaften gemeint, die sich auf ein solches "Wortstadium" beziehen.

1.1. Die lautliche Ebene

Die Lautstruktur wird berührt von Phänomenen der Mündlichkeit. Sie ist variabler als die Schriftform und kann z.B. diachron durch Lautverschiebungen und synchron in Form von Dialekten und Ideolekten verändert werden. In mündlicher Kultur stellt sie wesentlich die Seite des Bezeichnenden (im Sinne Saussures) dar, d.h. mit dem Höreindruck wird die Wortbedeutung assoziiert. Da VE überwiegend eine Erscheinung mündlicher Sprache ist (vgl. Bebermeyer, 1974, 177), muss die lautliche Ebene in der formalen Wortbeschreibung selbstverständlich repräsentiert werden.

1.1.1. Phonetische Struktur

Zur Beschreibung der konkreten mündlichen Realisierung verwendet man Lautschriften. Standard ist das Internationale Phonetische Alphabet (IPA). Es klassifiziert dem Anspruch nach alle vom Menschen artikulierbaren Laute nach artikulatorischen Gesichtspunkten und definiert ein entsprechendes Symbolsystem. Üblicherweise schreibt man eine lautschriftliche Wortbeschreibung als Symbolfolge in eckigen Klammern: z.B. Pflicht - [pfl((t].

1.1.2. Phonemische Struktur

Die genannte phonetische Struktur beschreibt Realisierungen von Woertern. Damit ergibt sich für ein bestimmtes Wort eine Menge möglicher phonetischer Realisierungen. Diese Diversität lässt sich mit Hilfe des Phonembegriffs ordnen (vgl. Colin/Yallop, 1995, 82f.). Betrachtet man die Laute in der phonetischen Struktur einer Wortrealisierung hinsichtlich ihrer bedeutungsunterscheidenden Funktion, dann zeigt sich, dass verschiedene Laute die gleiche Funktion haben können. Man spricht von Allophonen des gleichen Phonems. Zum Beispiel kann im Deutschen das /r/-Phonem sowohl durch Zungen- als auch Rachen-"R" realisiert werden. Innerhalb eines Sprachsystems kann einem Wort die Phonemkette seiner Grundform als Merkmal zugeordnet werden, wobei phonetisch verschiedene Realisierungen zulässig bleiben (vgl auch Clément, 1996, 206). Die Fülle dialektaler Aussprachen kann allerdings auch mit dem Phonembegriff nicht vollständig zusammengeführt werden.

Die Phonemstruktur soll im formalen Modell - trotzdem sie nur eine kleine, idealiserte Bandbreite von Aussprachevarianten erfassen kann - als konstituierendes Wortmerkmal festgehalten werden. Deshalb wird sie in den Strukturbeschreibungen mit dem Bezeichner "PHON" aufgenommen. Die Ausprägung ist eine in Schrägstrichen eingefasste Notation der Phonemkette.

1.1.3. Suprasegmentale Struktur

Der segmental-phonemischen Ebene übergeordnet ist die suprasegmentale Ebene der Lautstruktur. Zu ihr gehören die Silben- und Betonungsstruktur des Wortes sowie der Aspekt des Wortakzents (vgl. Eisenberg, 1998, 99f.), der hier aber nicht weiter betrachtet wird.

Die Silbe kann als die kleinste sprachliche Einheit aufgefasst werden, "über die Grammatikalitätsurteile abgegeben werden können" (Eisenberg, 1998, 99). Damit ist gemeint, dass ein Muttersprachler ziemlich genau sagen kann, ob eine vorgelegte Einzelsilbe in seiner Sprache möglich ist oder nicht.

Eine Silbe besteht aus Anfangsrand (Konsonanten), Kern (Vokal) und ggf. Endrand (Konsonanten), wobei bestimmte Restriktionen für die im Sprachsystem möglichen Kombinationen gelten. Auf den bei Eisenberg detailliert behandelten internen Aufbau von Silben kann hier nicht genauer eingegangen werden.

Bei mehrsilbigen Woertern ergibt sich aufgrund des Wechsels betonter und unbetonter Silben eine Betonungsstruktur, die auch als Fußbildung bezeichet wird:

Fuß Betonung Beispiel
Jambus [ - + ] zweisilbige Partizipia von echten Präfixverben: "bewohnt"
Trochäus [ + - ] zweisilbige Determinativkomposita: "Haustür"
Daktylus [ + - - ] dreisilbige Det.komp. mit einsilbigem Erstglied: "Türrahmen"

Die Silben- und Betonungsstruktur ist ein relevantes Wortmerkmal, das mit dem Bezeichner "SYLL" in die Merkmalsstruktur aufgenommen werden soll. Als Ausprägung ist eine segmentierte Variante der Phonemkette zugelassen, wobei jeder Silbenabschnitt mit einem Betonungsmarker eingeleitet wird. Ein "+" steht für "betont", ein "-" dagegen für "unbetont".

1.2. Die morphologische Ebene

Die morphologische Struktur ist wie die segmentale Lautstruktur und die Silbenstruktur auf Wortzerlegung in kleinere Einheiten ausgerichtet. Statt mit Silben oder Phonemen befasst sich die Morphologie mit Morphemen. So werden die kleinsten bedeutungstragenden Bestandteile eines Wortes bezeichnet. Die Gesamtheit dieser Bausteine kann als das Morpheminventar einer Sprache bezeichnet werden. Man unterscheidet Wortbildungs- und Flexionsaffixe sowie Grundmorpheme, wobei für die VE-Analyse auch die spezielle Klasse der "unikalen Morpheme" von Interesse ist (vgl. Fleischer/Barz, 1995, 33f.). Darunter versteht man singulär auftretende Morpheme, deren lexikalische Bedeutung unklar (geworden) ist.

Die morphologische Struktur kann hierarchisch aufgebaut sein, z.B. bei komplexeren Komposita wie "Ersatz-kassenschlüssel" vs. "Ersatzkassen-schlüssel" Zur Beschreibung kann deshalb eine Baumstruktur dienen.

Morphologische Worteigenschaften können auf andere Merkmalsebenen verweisen: Z.B. gibt es wortarttypische Suffixe wie -heit, -keit für Substantive oder -ig, -isch für Adjektive. Außerdem interagiert die morphologische Struktur mit der semantischen Deutbarkeit. Durch Neusegmentierung kann es bei VE-Prozessen z.B. zur Entstehung von Pseudokomposita kommen. Darauf, dass (scheinbare) Komposita unter den (deutschen) VE-Resultaten einen sehr hohen Anteil einnehmen, ist in der VE-Forschung verschiedentlich hingewiesen worden (vgl. Olschansky, 1994, 119/120).

Am Beispiel des noch genauer zu betrachtenden Pseudokompositums "Karfunkel" lässt sich die VE-Relevanz der morphologischen Ebene gut illustrieren:

carbunculus (lat.) ---> Karfunkel
/ \ / \
carb(o) unculus Kar funkel
Grundmorphem Dimin.-Suffix Unikales Morphem Grundmorphem

Als relevantes Wortmerkmal soll die Morphemstruktur unter dem Bezeichner "MORPH" erfasst werden. Die Ausprägung soll sowohl die hierarchische Struktur der Morpheme als auch deren Funktionsbezeichnungen enthalten. Dazu ist ein Paar hierarchisch geklammerter Listen vorgesehen. Die erste Liste enthält die Morphemhierarchie in Orientierung an der Schreibweise, die zweite enthält in gleicher Hierarchie die Bezeichner für die Morphemarten.

1.3. Die syntaktische Ebene

Innerhalb eines Satzes oder einer Phrase kann ein Wort bestimmte Positionen besetzen. Das hängt von seiner Wortart ab. Dazu muss es eine passende (flektierte) Wortform annehmen, d.h. seinem syntaktischen Umfeld entsprechen. Andererseits beinhaltet ein Wort auch Anforderungen an sein syntaktisches Umfeld. Diese Kombinationseigenschaften bestimmen die syntaktische Struktur eines Wortes. Vor allem anhand syntaktischer Eigenschaften werden Worte in Wortarten eingeteilt (vgl. Eisenberg, 1998, 14f.).

1.3.1. Wortart und Flexion

Die Grobeinteilung der Wortarten geht üblicherweise nach den Kriterien Geschlossenheit und Flektierbarkeit/Flexionsart vor sich (vgl. Clément, 1996, 33f.), wobei mit "Offenheit" die Erweiterbarkeit der Wortmenge durch Wortbildung gemeint ist. Die im folgenden verwendeten Wortartbezeichner orientieren sich an gängigen Klassifikationen (vgl. Eisenberg, 1998, 35):

unflektierbar deklinierbar konjugierbar
offen ADV SUBST, ADJ VERB
geschlossen PART, PRÄP, KONJ ART, PRO --

Die exaktere Unterscheidung der Wortarten ergibt sich aus für sie jeweils charakteristischen Merkmalen (z.B. ADJ: Steigerbarkeit, ART: Bildung von Nominalgruppe mit kongruentem Substantiv, PRÄP: Bildung von Präpositionalphrasen mit Nominalphrasen in entsprechendem Kasus, usw.).

Für die flektierbaren Wortarten ergeben sich auch Unterschiede hinsichtlich der Systematik der Wortformenbildung. Jeweils Wortartspezifisch sind Flexionsparadigma auszufüllen, die sich als mehrdimensionale Matrizen von Flexionskategorien darstellen lassen (vgl. Eisenberg, 1998, 144f.):

Wortklasse Flexionsparadigma
SUBST (Sg, Pl) * (Nom, Gen, Dat, Akk)
ART, PRO (Sg, Pl) * (Nom, Gen, Dat, Akk) * (m, f, n)
ADJ (Sg, Pl) * (Nom, Gen, Dat, Akk) * (m, f, n) * (Pos, Komp, Sup)
VERB (Sg, Pl) * (P1, P2., P3) * (Präs, Prät) * (Ind, Konj)

Die bisher genannten Hauptwortarten lassen sich meist noch in Unterklassen einteilen, bzw. durch zusätzliche Merkmale differenzieren. Für Verben ist das z.B. die Zuteilung zu den starken bzw. schwachen Verben. Für die Substantive ergibt sich ein Genusmerkmal, etc. Für die Formalisierung im Modell dieser Arbeit soll die Wortart unter dem Bezeichner "SYN-cat", im Sinne von syntaktischer Hauptkategorie, abgelegt werden. Als Ausprägungen kommen die bisher genannten Wortartbezeichner in Frage.

1.3.2. Valenzstruktur

Nach der Wortart ist die Valenz ein wichtiges syntaktisches Strukturmerkmal. Vor allem Verben zeigen diese Eigenschaft: Ein Verb beinhaltet Vorgaben zur Ergänzung mit gewissen Komplementen. Meist handelt es sich dabei um Nominalphrasen in bestimmten Kasus. Transitive Verben verlangen z.B. eine Akkusativ-NP usw. Generell spezifiziert der Valenzrahmen eine Liste von Ergänzungen, mit denen das Wort eine vollständige Phrase bilden würde. Dabei ist von gängigen Phrasenstrukturmodellen auszugehen. Bei VE-Prozessen können sich - wie hier bei den Beispielen "vorliebnehmen" und " Felleisen" - die Valenzeigenschaften ändern:

Wort Valenzrahmen
geben [NP-Nom | NP-Akk | NP-Dat]
schlafen [NP-Nom]
lesen [NP-Nom | NP-Akk]
danken [NP-Nom | NP-Dat]
scheinen [NP-Dat | Hauptsatz]
für lieb nehmen [NP-Nom | NP-Akk]
vorliebnehmen [NP-Nom | NP-mit-Dat]
felliß (mhd.) [ART-fem]
Felleisen [ART-neutr]

Die syntaktischen Valenzeigenschaften sollen im Modell unter dem Bezeichner "SYN-val" erfasst werden. Als Ausprägung ist eine Liste mit Komplementspezifikationen vorgesehen.

1.4. Die semantische Ebene

Wortbedeutungen sind besonders schwer formal zu erfassen. Es sollen hier beispielhaft drei Ansätze gezeigt werden, die zur semantischen Beschreibung eines Wortes beitragen können: Die Methode distinktiver Merkmale innerhalb eines Begriffsfeldes, die eher etymologische Zuordnung zu Wortfamilien mit morphosemantischen Verwandtschaften und die kompositionelle bzw. derivative Semantik bei entsprechenden Wortbildungen.

1.4.1. Merkmalsbündel

Eine Begriffsmenge mit gleichem Oberbegriff kann über distinktive binäre Merkmale bestimmt werden (vgl. Clément, 1996, 154f.). Beispiel:

Sitzmöbel "Sofa" "Sessel" "Stuhl" "Bank"
"bequem gepolstert" JA JA NEIN NEIN
"für mehrere Personen" JA NEIN NEIN JA

Die Bedeutung von Sofa wäre dann: "Ein bequem gepolstertes Sitzmöbel für mehrere Personen". Durch die Wahl der Merkmale und des Oberbegriffs wird natürlich ein großer Spielraum für "Willkür" gelassen. Außerdem wird der Begriffsbereich meist nur lückenhaft abgedeckt. Wie sähe das Schema z.B. aus, wenn Hocker und Couch (=Sofa?) hinzukämen? Die Wahl "grundlegender" Merkmale erweist sich als Hauptproblem des Ansatzes.

Die Methode eignet sich besonders zur Differenzierung mehrerer semantisch ähnlicher Ausdrücke. Für VE-Prozesse kann er insbesondere dann interessant sein, wenn ein Wort innerhalb eines Begriffsfeldes nur verschoben wird und sich dieser Vorgang anhand binärer Bedeutungsmerkmale präzisieren lässt. Wenn sich die referentielle Bedeutung bei der VE aber nicht verändert und nur die Beschreibungmittel wechseln, dann sollten Wortbildungssemantik und etymologische "Verwandtschaften" im Vordergrund stehen. Ein solcher Fall wird am an der Reinterpretation des Erstgliedes beim Kompositum "Maulwurf" zu betrachten sein. Bei Olschansky werden solche Beispiele als "nicht inhaltsverändert" sondern nur "sekundär motiviert" bezeichnet (Olschansky, 1994, 159f.).

1.4.2. Wortfelder, Wortfamilien

Durch etymologische Betrachtungen ergeben sich Verwandschaftsbeziehungen zwischen Woertern ähnlicher Herkunft. Damit kann sozusagen eine topologische Beschreibung des semantischen Umfelds des Wortes gegeben werden. Dieser Ansatz ist problematisch, weil etymologische Aussagen oft spekulativ und umstritten sind. Außerdem ist fraglich, wie eng man den Begriff "Verwandtschaft" auffasst (vgl. Clément, 1996, 29/30).

So lässt sich z.B. die Reihe fahren, fertigen, fertig, Fahrt, Fährte, Gefährt, Gefährte, Fahrer, Fähre, Ferge, Furt, Förde, Führer, Fuhre, noch weiterführen oder aber in verkürzter Form schon als vollständige "Familie" betrachten.

Dieser Aspekt der etymologischen Verwandtschaft soll zur formalen VE-Analyse vor allem dann hinzugezogen werden, wenn das entsprechende Wort ganz oder teilweise quasi "in falsche Familienverhältnisse" gebracht wurde, wenn also eine Neuzuordnung von Woertern in (meist wegen lautlicher und/oder semantischer Ähnlichkeit) vermutete Verwandtschaftsverhältnisse erfolgt ist.

1.4.3. Wortbildungssemantik

Die Semantik von Woertern, die als Wortbildungsprodukte analysiert werden können, lässt sich oft dekompositionell annähern. Dazu muss man davon ausgehen, dass die Bedeutung des komplexen Worts aus seinen Bestandteilen (unter mehr oder weniger starker Einbeziehung von Weltwissen) erschließbar ist und mit Hilfe der Bestandteile relativ kompakt paraphrasiert werden kann. Lässt sich einer Wortbildungsart ein gleichbleibendes Schema der Semantikkonstruktion zuordnen, so wird dies auch als "Wortbildungsbedeutung" bezeichnet (Fleischer/Barz, 1995, 19). Beispiele:

Komposita Hängematte "eine hängende Matte"
Autoreifen "Reifen eines Autos"
Affigierungen gelblich "von gelber Art"
männlich "wie ein Mann"

Durch Segmentierungsverschiebungen (oft in Verbindung mit Betonungs- und Orthographiewechsel) können scheinbar zusammengesetzte oder abgeleitete Worte entstehen, deren Bedeutung dann als Wortbildungbedeutung erscheinen kann (Bsp. "Mai-land"). Es können aber auch undurchsichtige Pseudobildungen entstehen, wie z.B. "mush-room".

1.4.4. Formalisierung der Semantik

Da die Wortsemantik für VE-Prozesse von hoher Bedeutung ist, semantische Wortmerkmale aber nur sehr schwer in einem konsistenten System erfassbar sind, muss für diese Merkmalsebene eine Kompromisslösung hingenommen werden: Die Bezeichnergruppe "SEM-" wird innerhalb der Merkmalsstruktur eine partielle Semantikrepräsentation beinhalten, die nur bestimmte, für den jeweiligen VE-Prozess als wichtig angenommene Bedeutungsaspekte erfasst und dabei auch nur die vorgestellten Theorieansätze berücksichtigt. Als Ausprägung sind Strukturen vorgesehen, die maximal folgendes Schema ausfüllen:

SEM-class (Begriffsklasse)
SEM-properties (Liste von Binärmerkmalen)
SEM-etym (Etymologische Wortfamilie(n))
SEM-formation (Wortbildungsart)
SEM-analysis (Bedeutungsparaphrase mit Konstituenten)

Dabei ist "class" der Oberbegriff oder die Begriffsklasse im Sinne von 1.4.1 und "properties" enthält einen relevanten Ausschnitt der zugehörigen Binärmerkmale, die jeweils ein "+" oder "-" tragen. Unter "etym" können ein oder mehrere etymologische verwandte "Wortstämme" aufgeführt werden. Die Wortbildungssemantik findet schließlich unter "formation" und "analysis" ihren Platz, indem hier Wortbildungsart und eine (halbformale) Bedeutungsparaphrase angegeben werden.

1.5. Die orthographische Ebene

Die orthographische Ebene wird hier nur der Vollständigkeit halber beschrieben. Sie ist der Späre der Schriftlichkeit vorbehalten und damit historisch auf exklusivere bzw. kleinere kommunikative Räume beschränkt. Desweiteren ist sie durch ihre Visualität und Materialität überprüfbarer und damit normierbarer als die flüchtige Akustik der Mündlichkeit. Damit ist sie auch weniger variabel. Als normativ überwachtere Sprachebene" ist sie überhaupt erst in der Neuzeit existent: "Im Alt- und Mittelhochdeutschen gibt es keine normativ geregelte Orthographie." (Weddige, 1996, 10). Volksetymologisch hat sich im Bereich der Schriftlichkeit kaum etwas getan, wenn man von "effektintentionalen" Bildungen absieht (Olschansky, 1994, 182/182).

Strukturell beschreiben ließe sich z.B. die Phonem-Graphem-Relation eines Wortes als Zuordnung von lautlichen und schriftlichen Einheiten. Generell steht die Schreibweise in vielfätigem Zusammenhang mit der Morphem- und Silbenstruktur des Wortes. Diese Segmentierungsstrukturen beinhalten z.B. Restriktionen für die orthographische Regelung der Silbentrennung. Bei verbalen Komposita sind sie auch für die Zusammen- oder Getrenntschreibung wichtig: Der Zusammenhangsgrad ergibt sich als ein Wortmerkmal an der Schnittstelle von Morphologie und Orthographie. Die Wortart ist wichtig für die Groß-/Kleinschreibung und damit ebenfalls von orthographischer Wirkung.

Es ergibt sich eine Reihe von Abhängigkeiten, die aber im Detail für die VE-Analyse kaum von Bedeutung sind. Unter dem Bezeichner "ORTH" soll deshalb nur die explizite (normierte) Schreibung bzw. mehrere in Wörterbüchern verzeichnete historische Schreibungsvarianten angegeben werden.

2. Formale Wortmerkmale und VE-Prozesse

Volksetymologie kann als struktureller Veränderungsprozess aufgefasst werden, bei dem Worte auf verschiedenen Ebenen Strukturänderungen erfahren. Dies findet einerseits im individuellen Bereich statt (Mikroebene) und wirkt sich ggf. auf den Sprachgebrauch in größerem Rahmen aus (Makroebene). Empirisch belegt sind letztlich nur die Phänomene auf der Makroebene, die in die Schriftlichkeit Einzug halten konnten. Deswegen können auch nur die Vorgänge auf dieser Ebene in ihren Entwicklungsstadien beschrieben werden. Diese Stadien werden anhand historisch gestufter Wortreihen abgebildet. So können z.B. ein althochdeutsches, ein mittelhochdeutsches und ein neuhochdeutsches Wort als VE-Reihe dargestellt werden, wenn die etymologische Forschung sie als "Entwicklungsstufen" beschreibt, die auf dem Weg zum heutigen Wort aufgetreten seien. Für jede der Stufen soll dann eine Merkmalsstruktur aufgestellt werden, die in einfacher Näherung die linguistisch erfassbaren Merkmale des Stadiums ansammelt. Diese Beschreibungsweise hat zwar die Schwäche, dass ein simpler linearer Entwicklungsgang in wenigen Hauptstadien unterstellt wird. Die realen Abläufe sind komplexer, wahrscheinlich nichtlinear und weisen mehr Varietäten auf. Ohne Reduktion von Komplexität ist eine formale Beschreibung jedoch nicht möglich.

In den Merkmalsstrukturen kann an verschiedenen Stellen Information fehlen oder spekulativ sein, z.B. weil nicht klar ist, wie die morphologische Struktur eines "undurchsichtigen" VE-Stadiums aufgefasst wurde. Solche Fälle sind mit Doppel-Fragezeichen markiert.

Die Merkmalsstrukturen sind statische Modelle: Jeweils eine Struktur bildet ein Stadium formal ab. Die Dynamik des jeweiligen VE-Prozesses kann dadurch quasi zweidimensional nach linguistischen Ebenen und Entwicklungsstadien gerastert werden.

Das Zusammenwirken von Veränderungen auf der Lautebene (z.B. Lautverschiebungen), Entlehnungen, Anlehnungen, Neusegmentierungen und Neumotivierungen sollte auf diese Weise analytisch etwas entflochten werden.

2.1. Das Formalisierungsschema

Die bisher genannten Merkmale werden in einer Liste zusammengefasst. Jedes Merkmal ist durch seinen Bezeichner und die jeweilige Ausprägung repräsentiert. Die Bezeichner erscheinen in folgender Reihenfolge (listenförmige Ausprägungen in eckigen Klammern): ORTH: "..", PHON: /../, SYLL: [..], MORPH: [..][..], SYN-cat, SYN-val: [..], SEM-class, SEM-properties, SEM-etym, SEM-formation. Als Darstellung bietet sich die Tabellenform an. Unspezifizierte Ausprägungen bleiben leer oder sind mit Fragezeichen versehen.

Zur Darstellung von Merkmalsdependenzen steht eine Spalte mit Dependenzinformation zur Verfügung. Zur Vereinfachung muss diese Dependenzbeschreibung kein bestimmtes Format haben. Sie erscheint sozusagen als frei formulierter Kommentar. Meist sollen Abhängigkeiten durch Wirkungspfeile ("->", "<->" oder "<-") symbolisiert werden.

Die verwendeten Strukturen sind sozusagen rudimentäre Formen von Merkmalsstrukturen, die in Unifikationgrammatiken verwendet werden (vgl. Haugeneder/Trost, 1995, 384). Üblicherweise werden dort auch die strukturalen Dependenzen streng formal mittels "Koreferenz" modelliert (ebd., 386). Im Abschnitt 3.3. wird auf mögliche Ausweitungen des hier verwendeten Teilmodells eingegangen.

2.1.1. "Isoliertheit" als Strukturmangel

Der Begriff der "Isoliertheit" , der oft als Voraussetzung für volksetymologische Vorgänge benutzt wird (vgl. Olschansky, 1994, 146)), kann bei der skizzierten strukturellen Wortbeschreibung als Strukturmangel objektiviert werden: Insbesondere bei Fremdworten oder allgemein bei unverstandenen Woertern oder Wendungen, die zunächst nur passiv gehört werden, steht den Sprechern nur die aus den wahrgenommenen phonetischen Realisierungen sozusagen extrahierte Strukturinformation zur Verfügung. Die semantische Ebene ist zunächst leer, die morphologische kann nur vermutet werden, die orthographische ist womöglich auch nicht bekannt und die syntaktische muss aus der Struktur von Realisierungen entnommen werden. Die Inferenzbildung, mit der das unvollständig strukturierte Material in das eigene Sprachsystem integriert werden soll, greift auf Bekanntes zurück: Ob als Pseudo-Wortbildung oder semantisch-lautliche Analogie: Durch Unterstellung von Regelhaftigkeit und Vermutungen wird Struktur aufgefüllt oder durch Ähnlichkeiturteile konstruiert.

Insbesondere das Deutsche sei stark in "Wortfamilien und Klangreihen gefügt und verankert" (Bebermeyer, 1974, 157). Deshalb falle "ein isoliertes Wort dem Sprecher auf" (ebd. 161) und der sei dann bemüht, das fragliche Wort wieder einer "Wortfamilie" zuzuordnen. Bebermeyer operiert hier mit vagen Konzepten von Wortverwandtschaft und veranschlagt sozusagen die Findelkinder und Waisen des Wortschatzes als VE-Kandidaten. Die linguistischen Zusammenhänge, die sie als "Verwandtschaft" zusammenfasst, sollten in der formalen Analyse genauer spezifizierbar werden: Die mehrschichtige Modellierung der Semantik kann zwischen etymologischer Verwandschaft und Beziehungen, die sich durch Wortbildung ergeben, differenzieren.

Das arbiträre Verhältnis zwischen Lautgestalt und Bedeutung kann auf morphologischer und auf lexikalischer Ebene durch Regelhaftigkeit "gemildert" werden: Der Bau des Wortes und die etymologische Anbindung der Bauteile sind bei "isolierten" Woertern unklar. Das Morpheminventar und die Systematik der Wortbildung bilden den Kern des Regelwerks, mit dem diese Isolation sozusagen "repariert" werden kann. Silben- und Betonungsregeln tragen zur Integration des Wortes bei.

2.1.2. Merkmalsdependenzen

Die lautliche Ebene interagiert mit der semantischen, wenn die Sprecher von "ähnlichem" Klang auf ähnliche Bedeutung schließen und ein Wort semantisch umstrukturieren oder wenn die Lautgestalt in Anlehnung an ein semantisch "ähnliches" Wort verändert wird. Unterstützend wirken Änderungen der Betonung und Schreibung, wenn dadurch z.B. Neusegmentierung vorgenommen und damit die morphologische Struktur umgedeutet wird. Grundsätzlich interagieren alle Ebenen miteinander, wobei die historischen Abläufe im Bereich der Mündlichkeit und damit vorwiegend im Spannungsfeld von Semantik und Phonetik anzusiedeln sind.

2.2. Beispielanalysen

In den folgenden Beispielen werden einige häufig genannte VE-Repräsentanten aufgegriffen und ihren "Entwicklungsstadien" jeweils Merkmalsstrukturen zugeordnet. Quelle der Beschreibung sind in erster Linie (Kluge, 1995) und (Olschansky, 1994). Teilweise wurde auch (Henning, 1995) hinzugezogen.

2.2.1. "Karfunkel"

Das heutige Wort "Karfunkel" mit der Bedeutung "feurig rot leuchtender Edelstein" hat sich durch Entlehnung von lat. carbunculus, einem Diminutiv zu lat. carbo, über mhd. karbunkel bzw. karfunkel entwickelt (Olschansky, 1994, 130). Beim Übergang von -b- zu -f- wird eine Anlehnung an Funke bzw. funkeln vermutet (Kluge, 1995, 427). Als Stadien der Entwicklung werden hier lat. carbunculus, mhd. karbunkel und nhd. Karfunkel angesetzt.

Beim lateinischen Ausgangsstadium liegt noch eine klare Wortbildung vor. Die direkte Verwandtschaft mit "carbo" ist durchsichtig. Aus der Wortbildung ist die Semantik "kleine Kohle" ableitbar und ein Oberbegriff "Gestein" kann daraus auch hergeleitet werden, wenn man für "carbo" den gleichen Oberbegriff wählt und mit der Diminutivbildung lediglich das Merkmal "+klein" hinzufügt. Das Merkmal "+glutrot" ist aus der reinen Wortbildung nicht zu erschließen. Dafür ist bereits die Vorstellung von glühender Kohle voraus zu setzen. Schon Theophrast soll anhand dieser Vorstellung die Eigenschaften entsprechender Edelsteine beschrieben haben (vgl. Lüschen, 1979, 247). Das Merkmal könnte im Zuge der übertragenen Bedeutung zusammen mit "+edelstein" relevant geworden sein. Die lautlichen Eigenschaften ergeben sich gemäß den Betonungs- und Ausspracheregeln der lateinischen Sprache. Die Wortart folgt aus der Wortbildungsart und der "us"-Endung.

MERKMAL AUSPRÄGUNG DEPENDENZEN
ORTH "carbunculus" --
PHON /karbungkuluss/ <- Sprachkompetenz
SYLL [-car +bun -cu -lus] <- Sprachkompetenz
MORPH [carb | unculus]

[lex. Basis | Dimin.suffix]

<- MORPHEMINVENTAR
SYN-cat SUBST (masc.) <- MORPH
SYN-val [..] ..
SEM-class Gestein <- SEM-analysis
SEM-properties +glutrot +klein

(+edelstein oder +kohle)

+klein <-> MORPH: Diminutiv
SEM-etym carbo (lat.) <- MORPH
SEM-formation Diminutiv-Ableitung <- MORPH
SEM-analysis kleine-form-von( kohle ) <- SEM-formation

Bei der Eingliederung des lateinischen Wortes in das deutsche Sprachsystem wurde die Endung "-unculus" zu "unkel" verformt, wie z.B. auch bei "Furunkel" aus "furunculus" oder allgemeiner "-el" aus "-ulus" oder "-ulum", wie bei "Pendel", "Muskel" o.ä. Diese "-el"-Endung hat normalerweise keinen Morphemcharakter, so dass die derivative Wortbildung unkenntlich wird. Selbst wenn man die dialektale (?) Verwendung des "-(e)l"-Suffix als Diminuierung heranzieht (z.B. bei "Mädel" oder "Stängel") lässt sich "karbunkel" nicht als derivative Wortbildung analysieren. Da auch "karbunk" undurchsichtig bleibt und ein verwandtes lexikalisches Morphem wie "Karbon" (nhd.) nicht existierte, muss davon ausgegangen werden, dass "karbunkel" bei Unkenntnis der lateinischen Quelle als undurchsichtig empfunden wurde. Die Strukturinformation wird entsprechend lückenhaft bzw. spekulativ modelliert. Das Stadium kann als VE-typische Isolationsstufe bezeichnet werden. Für die Undurchsichtigkeit spricht auch die erklärende Ergänzung in der Form "karbunkelstein" (Henning, 1995, 176).

MERKMAL AUSPRÄGUNG DEPENDENZEN
ORTH "karbunkel" (..) --
PHON /karrbungkell/ <- Sprachkompetenz
SYLL [-kar +bun -kel] <- Lehnwort erbt Merkmale
MORPH [karbunk ?|? el]

[?unikal? | ?Diminutiv-Suffix?]

<- Sprachkompetenz
SYN-cat SUBST <- SEM-class
SYN-val [ART-masc] <- Lehnwort erbt Merkmale
SEM-class Gestein <- lexikalisches Wissen
SEM-properties +glutrot +klein +edelstein

(+leuchtend)

<- lexikalisches Wissen
SEM-etym ?? <-> MORPH
SEM-formation ?Subst. Ableitung auf "el"? <-> MORPH
SEM-analysis ?kleine-form-von( ?karbunk? )? <-> SEM-formation

Das beschriebene Stadium ist als "isolierte" Entwicklungsstufe prädestiniert für weiteren integrierenden Wandel. Das Wort "karbunkel" ist etymologisch isoliert und auch wegen seiner Länge nicht gut als Simplex zu lexikalisieren.

Die Silbe "kar" ist allerdings in Woertern wie "karvritac" oder "karwoche" geläufig, dort eingeflossen im Sinne von mhd. "kar" "Kummer, Sorge" (Kluge, 1995, 427). Des weiteren existierte auch mhd. "kar" für "Schüssel" oder "Gefäß" (Hennig, 1995, 176).

Der Morphemvorrat des Mittelhochdeutschen hatte also ein "kar" aufzuweisen, auch wenn die genannten Bedeutungen für "karbunkel" wenig Sinn machen. Die Existenz eines homonymen Grundmorphems scheint die Akzeptanz der unmotivierten Silbe "kar" aber erhöht zu haben. Sie ist später z.B. in "karfiol" oder "kartoffel" eingeformt worden und hat in "karmesin" sogar einen Platz in semantischer Nähe zu "+rot" gefunden.

Die lautliche Umformung des unmotivierten "bunkel" zu "funkel" ist mit Sicherheit semantisch motiviert. Dadurch wird vor allem eine etymologische Anbindung an die Familie um "funke(l)" und "funkeln" erzielt, was im Sinne der Bedeutungsmerkmale "+glutrot" und "(+leuchtend)" wohl als plausibel erschien. Die lautliche Distanz von "b" zu "f" ist nicht übermäßig groß: Zwar wird aus dem Plosiv ein Frikativ und die Stimmhaftigkeit verschwindet, aber die Artikulationsstelle wechselt lediglich von bilabial zu labiodental.

Die Sekundärmotivation ist insbesondere in der parallelen Form "Karfunkelstein" expliziert: "Ein Stein wie ein Funke", mit "vunke(l)" in der Bedeutung "Funken".

MERKMAL AUSPRÄGUNG DEPENDENZEN
ORTH "Karfunkel" (nhd.) --
PHON /karrfungkell/ <- Sprachkompetenz
SYLL [-kar +fun -kel] <- Vom Vorstadium geerbt
MORPH [Kar | funkel]

[unikales M. | lex. Grundmorphem]

<- Morpheminventar & Inferenz
SYN-cat SUBST <- Vom Vorstadium geerbt
SYN-val [ART-masc] <- Vom Vorstadium geerbt
SEM-class Gestein <- Vom Vorstadium geerbt
SEM-properties +glutrot +klein +edelstein <- Vom Vorstadium geerbt
SEM-etym funke, funkeln <- MORPH
SEM-formation ?? <- Wortbildungssystematik
SEM-analysis etwas-mit-eigenschaft( funkeln ) <- MORPH (assoziativ)

Aus der entstandenen Pseudomorphologie mit dem unikalen Morphem "kar" und dem lexikalischen Grundmorphem "funkel" kann keine stringente Wortbildungsstruktur abgeleitet werden. Fasst man "funkel" wie im Mittelhochdeutschen substantivisch auf, so könnte mit Mühe ein unklares Kompositum in der Art wie "Himbeere" konstatiert werden. Da ein Edelstein aber nur im übertragenen Sinn ein "Funke" und ist, und "Kar" keine determinierende Funktion hat, erscheint die Einbettung in die deutsche Wortbildungssystematik jedoch unvollständig.

Insgesamt dominiert bei diesem VE-Prozess die etymologische Anbindung vor der morphologischen Rekonstruktion. Das morphologische Defizit von "Karfunkel" hat sicher auch dazu beigetragen, die bis heute existierende Begleitform "Karfunkelstein" am Leben zu erhalten.

2.2.2. "Maulwurf"

Das neuhochdeutsche Wort "Maulwurf" ist nach Kluge (1995, 547) Ergebnis eines VE-Prozesses mit wahrscheinlich zwei Neumotivierungen. Im Gegensatz zum "Karfunkel"-Beispiel, das die Integration einer Entlehnung nachzeichnete, handelt es sich hier um einen VE-Prozess, in dem "native Wörter" (Olschansky, 1994, 180) verändert wurden.

Die hier betrachteten Stadien "muwerf", "moltwerf" und "mulwerf" bezeichn(et)en allesamt jenes "Erdhaufen aufwerfende Säugetier", das durch die Tätigkeit des "Werfens" so treffend charakterisiert zu sein scheint. Als "-wurf" oder "-werf" wird es fast durchgehend benannt. Dialektal wurde teilweise aus dem "wurf" ein "wurm", "worm", "wolf" oder "wel(p)f" (vgl Andresen, 18xx, 286 und Hennig, 1995, 227). Träger der Benennungsverschiebung in den hier untersuchten, auch bei Olschansky (1995, 10) als wesentlich erachteten Stadien ist das Erstglied des Determinativkompositums. Die lautlich ähnlichen einsilbigen Morpheme "mu", "molt" und "mul" gingen ineinander über, weil "mu" bzw. "molt" aus dem Sprachgebrauch verschwanden und dadurch als Erstglied ihre Motivierung verloren. Aus der anschaulichen Kenntnis des Bezeichneten (des Tieres bzw. seiner auffälligen "Baggeraktivität") konnte jeweils eine neue, wieder durchsichtige Motivierung gebildet werden, die nur geringfügige Änderungen der Lautgestalt und keine Änderungen bei Wortbildungsart und Silbenzahl erforderte. Auch die für zweisilbige Determinativkomposita typische trochäische Betonungsstruktur dürfte konstant geblieben sein.

MERKMAL AUSPRÄGUNG DEPENDENZEN
ORTH "muwerf, muwurf" (ahd.) --
PHON /../ ..
SYLL [+mu | -werf] <- Sprachkompetenz
MORPH [mu | werf]

[lex. Grundmorphem | lex. Grundmorphem]

<- Sprachkompetenz
SYN-cat SUBST <- MORPH, SEM-class
SYN-val [ART-masc] <- Sprachkompetenz
SEM-class (Säuge-)Tier <- Weltwissen
SEM-properties +(wirft Erdhaufen auf)

?? andere distinktive Merkmale ??

<- SEM-analysis
SEM-etym mu, werf <- MORPH
SEM-formation Determinativkomposition <- MORPH
SEM-analysis (Wesen, das (Hügel/Haufen) (auf-)wirft) <- MORPH

Der Übergang von "muwerf" zu "moltwerf" stellt eine nur geringfügige Änderung dar. Die Auswirkungen auf die Wortstruktur sind minimal: Statt der (Erd-)"Haufen" wird jetzt die aufgehäufte "Erde" im Erstglied benannt. Betonung, Wortbildung, Bedeutungserschließung und Silbung bleiben gleich. Das neue Erstglied ist lautlich ähnlich, auch einsilbig und repräsentiert in nur leicht verschobener Weise die "Erdhaufen" als Akkusativ-Objekt des "Werfens".

MERKMAL AUSPRÄGUNG DEPENDENZEN
ORTH "moltwerf", "moltwurf" (mhd.) --
PHON /../ ..
SYLL [+molt | -werf] <- Sprachkompetenz
MORPH [molt | werf]

[lex.Grundmorphem | lex.Grundmorphem]

-
SYN-cat SUBST <- MORPH, SEM-class
SYN-val [ART-masc] <- lexikal. Wissen
SEM-class (Säuge-)tier <- geerbt von Vorstadium
SEM-properties +(wirft Erdhaufen auf)

?? andere distinktive Merkmale ??

<- SEM-analysis
SEM-etym molt(e), werf(en) <- MORPH
SEM-formation Determinativkomposition <- MORPH
SEM-analysis (Wesen, das (Erde) (auf-)wirft) <- MORPH, SEM-class

Auch der Übergang von "molt" zu "mul" ist lautlich nur eine geringfügige Verschiebung. Die entscheidende Änderung bei dieser Neumotivierung ist die semantische Ablösung des "Erde/Haufen aufwerfen" durch das weniger naheliegende "mit dem Maul werfen". Dieser Übergang könnte durch die Existenz des mit "molt" verwandten "mull" im Sinne von "Humus, feine Erde" unterstützt worden sein, das bis auf die Vokallänge mit "mul" übereinstimmte, aber letztlich regional beschränkt blieb. Diese Vermutung ist aber nicht stichhaltig belegbar (vgl. Kluge, 1995, 547/573).

MERKMAL AUSPRÄGUNG DEPENDENZEN
ORTH "mulwerf, mulwurf" (mhd.)
PHON /mu:lwerf/ ..
SYLL [+mul -werf] ..
MORPH [mul | werf]

[lex.Grundmorphem | lex.Grundmorphem]

..
SYN-cat SUBST ..
SYN-val [ART-masc] <- lexikal. Wissen
SEM-class (Säuge-)tier <- geerbt von Vorstadium
SEM-properties +(wirft Erdhaufen auf) <- SEM-analysis
SEM-etym mul, werf(en) <- MORPH
SEM-formation Determinativkomposition <- MORPH
SEM-analysis (Wesen, das (mit dem Maul) etwas wirft) <- MORPH, SEM-class

Interessanterweise sind in den Bedeutungen "Haufen" (ahd. "mu"), "Erde" (mhd. "molt") und "Maul" (mhd. "mul") alle wesentlichen Bestimmungen der "Werftätigkeit" des Tieres angegeben. Es lässt sich an diesem Beispiel anschaulich die Flexibiliät der Bedeutungskonstruktion bei Determinativkomposita nachvollziehen: In den Verbphrasen, die dem Kompositum jeweils zugrunde liegen, ist das Erstglied erst eine Akkusativ-NP ("Erde/Haufen werfen"), später Teil einer Präpositionalphrase ("mit dem Maul werfen").

Die Umformung von "mulwurf" zum nhd. "Maulwurf" ergab sich später als Folge der neuhochdeutschen Diphtongierung (vgl. Weddige, 1996, 31).

2.2.3. "Einöde"

Ursprung dieses VE-Prozesses ist das ahd. "einoti" ("Einsamkeit"), dessen morphologische Bildung das unklare "oti"-Suffix enthält, das z.B. auch bei den althochdeutschen Vorstufen von "Armut" oder "Heimat" auftrat. Das Suffix ist nach Kluge (1995, 212) "schwer abgrenzbar".

Im Mittelhochdeutschen ergaben sich dann mehrere Varianten mit Anlehnung an mhd. "oede", "ode" im Sinne von "öde, verlassen" (vgl. Hennig, 1995, 243): "einote", "einoete", "einoede". Im Zuge der Einengung auf nhd. "öde" bzw. "Öde" existiert heute noch "Einöde", das Kluge (1995, 597) entsprechend als "sekundär angeglichen" bezeichnet. Die alte Bedeutung "allein (liegend)" begegne noch im bairischen Wort "Einödhof" (Kluge, 1995, 212).

MERKMAL AUSPRÄGUNG DEPENDENZEN
ORTH "einoti" (..)
PHON /../ ..
SYLL [..] ..
MORPH [ein | oti]

[lex. Grundmorphem | subst. Suffix]

..
SYN-cat SUBST <- SEM-formation
SYN-val [..] ..
SEM-class Situation, Lage ..
SEM-properties +einsam <- SEM-etym
SEM-etym ein <- MORPH
SEM-formation Substantivableitung (Suffigierung) ..
SEM-analysis Lage des allein seins <- SEM-formation

Nach Olschansky (1994, 103) gehört dieser VE-Prozess zu einer bereits von Bebermayer beschriebenen Bildungsart, bei der durch VE-unabhängige Lautveränderungen ein Grundwort "klanggleich mit anderen, unverwandten" werde: "Die im Sprachdenken des heimischen Sprechers stärker verwurzelte Wortfamilie zieht dann das klanggleiche Wort gleichsam an." (Bebermeyer, 1974, 160). Das bereits im Mittelhochdeutschen unkenntlich verformte "oti"-Suffix und die semantisch-lautliche Nähe zu mhd. "oede" dürften diese "Anziehungkräfte" bewirkt und eine "de-isolierende sekundäre Zuordnung" (Olschansky, 1994, 103) motiviert haben.

Die mittelhochdeutsche Form "einoede" erhielt damit auch eine sekundär zugeordnete Wortbildungsstruktur, in der wie bei "Einsiedler" das Erstglied "ein" im Sinne von ahd. "ein" ("allein, einsam") verstanden werden muss. Eigentlich müsste man eine Determinativkomposition ("einsame Öde") zuordnen, solange das freie Adverb mhd. "ein(e)" noch existierte. Im Neuhochdeutschen kann diese Analyse nicht aufrecht erhalten werden, weil das "Erstglied" kein freies Grundmorphem mehr darstellt. "Einöde" und "Einsiedler" können als "Exoten" in die lange Reihe der "ein"-Präfigierungen gestellt werden, wobei eine seltene, unproduktive Präfix-Lesart "allein, einsam" zugrunde gelegt werden muss. Wesentlich häufigere Lesarten für den Präfix sind "hinein", "herein" (z.B. bei "Eingang") oder die Anzahlbedeutung wie bei "Einbaum" oder "Einakter" (vgl. DUDEN, 1996, 239-246).

MERKMAL AUSPRÄGUNG DEPENDENZEN
ORTH "Einöde" (nhd.)
PHON /../ ..
SYLL [+ein -ö -de] ..
MORPH [ein | öde]

[Präfix | lex. Grundmorphem]

..
SYN-cat SUBST <-MORPH
SYN-val [ART-fem] <-MORPH (Genus von "Öde")
SEM-class Situation, Lage lex. Wissen
SEM-properties +einsam/verlassen

(+landschaftlich)

<- neue Lexikalisierung
SEM-etym (all-)ein, öde <- MORPH
SEM-formation (Pseudo-)Präfigierung ..
SEM-analysis einsame, verlassene Öde (Landschaft) ..

Wie bei Kluge konstatiert wird, ist die heutige Form "Einöde" somit "lautlich, semantisch und im Genus" an "Öde" angeglichen worden (Kluge, 1995, 212). Während die mittelhochdeutschen Formen noch kein eindeutiges Genus hatten (vgl. Hennig, 1995, 63), hat "Einöde" das feminine Genus von "Öde" übernommen.

3. Probleme und weiterführende Überlegungen

Die Beispielanalysen ließen bereits erkennen, dass der hier eingeschlagene Weg der formalen Modellierung von "Entwicklungsstadien" gewisse methodische Probleme mit sich bringt. Es ist nicht klar, was die Strukturen in den Tabellen genau abbilden sollen: Auffassungen von zeitgenössischen Sprechern bzw. Schreibern, Vermutungen des Verfassers dieser Arbeit oder rückprojezierte Annahmen der VE-Theorie. Die Herleitung und Begründung der Analysen blieb oft dünn oder hypothetisch und ist praktisch ohne eigene Belege erfolgt. Stütze der Argumentation waren Aussagen der etymologischen Forschung, wie sie in den verwendeten Wörterbüchern gemacht werden. Das zeitliche Nacheinander der "Wortstadien" wurde als "Entwicklungsgang" aufgefasst. Auch darin folgte die Analyse gängigen Annahmen der Etymologie.

Es blieb unklar, inwiefern die Merkmalsstrukturen Abbild mentaler Repräsentation sein sollen und welche Ergebnisse der Kognitionsforschung dabei aufzugreifen wären. Des weiteren sind die verwendeten Strukturen aus dem Umfeld der Computerlinguistik entlehnt, realisieren aber nicht alle dort verfügbaren Modellierungsmittel.

Die genannten Schwachstellen sollen im folgenden einzeln diskutiert werden. In mehrfacher Hinsicht sind sie natürlich auch durch den begrenzten Rahmen dieser Arbeit begründet.

3.1. Belegprobleme

Ein grundsätzliches Problem der VE-Forschung wurde bereits in der Einleitung angesprochen: Die Unmöglichkeit, die Mikroebene des Sprachverstehens und -produzierens bei VE-Prozessen erforschen zu können. Die vergangenen mentalen Prozesse in mündlichen Kulturen entziehen sich dem heutigen Zugriff.

Daraus resultiert das Angewiesensein auf Textquellen. Da die VE-Prozesse im Bereich des Sprachwandels erfolgen, sind viele Einzelbelege zu sammeln, um den Wandel wenigstens in seiner schriftlichen Form einigermaßen nachzeichnen zu können.

Derartige Belegrecherche hätte den Rahmen dieser Arbeit überstiegen. Deshalb wurde auf Ergebnisse der etymologischen Forschung zurück gegriffen. Aber auch für die etymologische Forschung, die zwangsläufig mit Textbelegen arbeiten muss, sind viele sprachgeschichtliche Zusammenhänge und Prozesse offensichtlich ungeklärt, wie die häufigen Kommentare "unklar" "nicht gesichert" u.ä. zu erkennen geben. Es muss wohl hingenommen werden, dass VE-Analyse immer auch ein Stück Betätigung der eigenen VE-Fantasie erfordert. Was die Produzenten von Volksetymologien auf der primären, sprachlichen Ebene leisteten, nämlich lückenhaftes Wissen und Unklarheiten mit Thesen und Analogien zu füllen, das macht der "VE-Forscher" sozusagen auf der sekundären, metasprachlichen Ebene: Er stellt Hypothesen auf und unterstellt Gesetzmäßigkeiten, ohne sie verlässlich validieren zu können. Solange dieser Mangel bewusst bleibt und die Suche nach Belegen und Beweisen andauert, muss man diese "kreative" Methodik wohl akzeptieren.

Die VE-Forschung hat bisher eher Beispiele für VE-Prozese angehäuft als sich in die Details einzelner VE-Prozese zu vertiefen. Die umfassende Bibliographie von Olschansky weist relativ wenige Studien einzelner VE-Vorgänge auf. In diesem Bereich, gerade bei der Belegsicherung für die immer wieder genannten "Paradebeispiele" der VE-Forschung, liegt sicher ein wichtiges zukünftiges Forschungsfeld.

3.2. Merkmalsstrukturen als mentales Modell ?

Merkmalsstrukturen sind in verschiedenen Bereichen der formalen Linguistik entstanden, so z.B. in der Merkmalssemantik oder zur Darstellung phonologischer Merkmale einzelner Laute. Dabei wurden zunächst nur binäre Merkmale verwendet, die üblicherweise nur "+" oder "-" als Ausprägung haben konnten. Der Einsatz von Merkmalsstrukturen in der grammatischen Theorie führte zu komplexeren Strukturen. Formalismen wie HPSG oder LFG erheben zwar den Anspruch, "deskriptiv" zu sein in dem Sinn, dass sie möglichst viele Sprachkonstrukte und -prozesse beschreiben können. Hinsichtlich psycholinguistischer Empirie bleiben aber viele Fragen offen (vgl. Rohrer/Schwarze, 1988, 12/13). Es muss klargestellt werden, dass Merkmalsstrukturen in Verbindung mit "Unifikation" als grundlegender Verknüpfungsoperation und "Koreferenz" als Mittel der Dependenzdarstellung ein mathematisch exakt beschriebenes System bilden, dass eher ein Gegenstand der theoretischen Informatik als ein Hilfsmittel der Kognitionspsychologie ist. In KI-orientierten Darstellungen dominiert der mathematisch-technische Aspekt. So nennen Haugeneder und Trost (1995, 406) in der zusammenfassenden "Schlussbemerkung" zu ihren "Beschreibungsformalismen für sprachliches Wissen" nur eine computerlinguistische und eine logische Forschungsrichtung. Die psychologische Plausibilität der Beschreibungsmittel scheint für sie unbedeutend zu sein.

Die in dieser Arbeit verwendeten Strukturen sind einfacher aufgebaut. Sie dienen als deskriptive Übersichtstafeln und nicht als Datenstrukturen für Algorithmen der Computerlinguistik. Sie versammeln Aspekte von Wortstruktur, ohne direkt psychologische oder gar neurologische Repräsentationen modellieren zu wollen. Es ist aber möglich, Merkmalstrukturen in begriffliche Netzwerke umzuformen, indem das Wort als Zentralknoten und die Merkmalsausprägungen als sternförmig abgezweigte Knoten betrachtet werden. Die Merkmalsbezeichner wären als Relationsbezeichner für die jeweiligen Kanten aufzufassen und Dependenzen zwischen Merkmalen könnten als zusätzlichen Kanten dargestellt werden. Diese Darstellungsform als begriffliches Netzwerk wäre zumindest eine anerkannte Repäsentationsform für explizites Wissen.

A. Literaturangaben

ANDRESEN, Karl Gustaf: Ueber deutsche Volksetymologie.

BEBERMEYER, Renate: Zur Volksetymologie: Wesen und Formen. In: Sprache und Sprachhandeln. Festschrift für Gustav Bebermeyer. Hildesheim 1974.

CLARK, John/YALLOP, Colin: An Introduction to Phonetics and Phonology. Cambridge (Massachusetts) 1995.

CLÉMENT, Danièle: Linguistisches Grundwissen. Eine Einführung für zukünftige Deutschlehrer. Opladen 1996.

DROSDOWSKI, Günther et.al. (Hrsg.): DER DUDEN. Band 1: Rechtschreibung der deutschen Sprache. Mannheim 1996.

EISENBERG, Peter: Grundriß der deutschen Grammatik. Band 1: Das Wort. Stuttgart 1998.

FLEISCHER, Wolfgang / BARZ, Irmhild: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen 1995.

FÖRSTEMANN,

HAUGENEDER, Hans / TROST, Harald: Beschreibungsformalismen für sprachliches Wissen. In: GÖRZ, Günther (Hrsg.): Einführung in die künstliche Intelligenz. Bonn 1995. S. 365-407.

HENNIG, Beate: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Tübingen 1995.

KLUGE, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. Berlin 1995.

LÜSCHEN, H.: Die Namen der Steine. Das Mineralreich im Spiegel der Sprache. Thun, München 1979.

MAYER, Erwin: Sekundäre Motivation. Dissertation. Könl 1962.

OLSCHANSKY, Heike: Volksetymologie. Dissertation. Würzburg 1994.

SHIEBER, Stuart M.: An Introduction to Unification-Based Approaches to Grammar. CSLI Lecture Notes. Band 4. Stanford 1986.

WEDDIGE, Hilkert: Mittelhochdeutsch. Eine Einführung. München 1996.