Universität des Saarlandes, FR 8.1 Germanistik
Hauptseminar "Jakob Michael Reinhold Lenz"
WS 1998/99, Leitung: Prof. Dr. Gerhard Sauder

J.M.R. Lenz' "Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen"


Inhaltsverzeichnis


0. Einleitung

1. Entstehung und Erforschung der "Vorlesungen"

1.1 Entstehung und Edition im Überblick
1.2 Das moralphilosophische Umfeld bei Lenz
1.3 Beiträge zu Analyse und Bewertung

2. Die Abschnitte der "Vorlesungen" im Einzelnen

2.0.0 Aufbau und Struktur im Überblick
2.1.0 Konkupiszenz, Gesetz und Evangelium
2.1.1 Salzmann und Lenz
2.2.0 Kritik der Erbsündelehre
2.2.1 Neologische Erbsündekritk
2.3.0 Sexualität - ihre Bedeutung und Bändigung
2.3.1 Zu Triebpsychologie und Menschenbild

3. Thesen und Fragestellungen

A. Literaturangaben



0. Einleitung

Das in den letzten Jahrzehnten gewachsene Interesse am 'Sturm und Drang'-Autor Jakob Michael Reinhold Lenz erfuhr im Jahr 1994 durch den Fund und die Herausgabe der "Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen" durch den Forscher Christoph Weiß einen gewaltigen 'Zwischenschub'. Eine lange verschollene Schrift des Goethe-Jugendfreundes Lenz war wieder entdeckt worden, die im Gebäude der Lenzschen Moralphilosophie und Theologie als wichtiger Baustein anzusehen ist.
In besonders ausdrücklicher Weise setzt sich Lenz in dieser Schrift mit den Themen Begierde und Sexualität auseinander. Stärker als in seinen sonstigen Schriften scheint er um eine positive Integration der Triebhaftigkeit in seine Anthropologie bemüht zu sein.
Der germanistisch hochinteressante Fund erregte auch im außerwissenschaftlichen Blätterwald eine gewisse Aufmerksamkeit. So sprach Ludger Lütkehaus in der 'Zeit' überschwenglich von einem "erotischen Gottesbeweis" und auch der 'Spiegel' bedachte die Lenzschen "Sexualthesen" mit einem Beitrag.
Da die Sexualität bzw. der rechte Umgang mit ihr auch in Lenz' poetischem Werk eine wichtige Rolle spielt, könnten die 'Vorlesungen' der Forschung neue Ansatzpunkte für Interpretation und Einschätzung liefern. Zu dieser Frage gibt es unterschiedliche Vorstellungen in der Forschung.
Interessant ist, wie strukturiert der sonst eher in loser Form argumentierende Lenz seine 'Vorlesungen' aufbaut. Ausgehend von einer ästhetischen Grundlegung seines Konkupiszenzbegriffs, den er mit dem Evangelium in Einklang bringt, greift er die Erbsündelehre an und stellt schließlich die gezähmte Sexualität in den Kern seines Menschenbildes und seiner "empfindsamen" Ethik.
Die Forschung hat sich in der Behandlung der 'Vorlesungen' zunächst auf die Sicherung der Entstehungs- und Editionsumstände sowie die Ein- und Zuordnung der Lenzschen Argumentation zu verschiedenen Diskurszusammenhängen konzentriert. Weitergehende Fragen wie die Bedeutung der 'Vorlesungen' für die begriffliche Charakterisierung des Sturm und Drang und dessen Verhältnis zu Aufklärung und Empfindsamkeit werden kontrovers diskutiert.
Die vorliegende Arbeit will neben den historischen und editorischen Rahmeninformationen, die teilweise schon Anekdoten-Charakter angenommen haben, vor allem den Inhalt und die Argumentation der Schrift in Verbindung mit ersten Einschätzungen der Forschung präsentieren.
Im ersten Kapitel werden die Fakteninformationen zu Entstehung und Erschließung der Schrift wiedergegeben. Es wird ein Schlaglicht auf andere moralphilosophische Schriften und Äußerungen Lenz' geworfen und dabei auch der Briefwechsel mit Johann Daniel Salzmann berücksichtigt. Des weiteren wird ein Überblick über Rezensionen und Analysen gegeben, die sich mit den neu herausgegebenen 'Vorlesungen' befasst haben. Im zweiten Kapitel wird abschnittsweise der Inhalt und die Argumentation der 'Vorlesungen' skizziert und jeweils durch ein Kapitel zu relevanten Hintergründen der Lenzschen Ausführungen ergänzt. Dabei werden Positionen der Forschung möglichst vielfältig eingeflochten. Im dritten Kapitel werden abschließend noch einige übergreifende Thesen und Fragestellungen zu den 'Vorlesungen' aufgegriffen .


1. Entstehung und Erforschung der "Vorlesungen"

1.1 Entstehung und Edition im Überblick

Die "Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen" entstanden wahrscheinlich 1772 in Lenz' Straßburger Zeit als Vorträge für die dortige "Société de Philosophie et des Belles Lettres". Sie erschienen erst 1780 wahrscheinlich beim Verlag C.A. Serini in Basel. Herausgeber war vermutlich Johann Georg Schlosser, der sich auch schon während Lenz' psychischer Erkrankung um ihn gekümmert hatte. Zur Zeit der Herausgabe befand sich Lenz bereits in Livland bzw. St. Petersburg, nachdem er 1779 mit seinem Bruder nach Riga zurückgekehrt war. Die Umstände der Herausgabe sind im Nachwort von Christoph Weiß ausführlich dargelegt und erörtert (Weiß, 1994a, 77*-80*).
Die einzige bekanntgewordene zeitgenössische Rezension der 'Vorlesungen' publizierte 1785 der den Neologen zugerechnete Stralauer Pfarrer und spätere Philosophieprofessor in Halle, Johann August Eberhard. Eberhard, "einer der konservativen Kritiker der empfindsamen Tendenz" (Sauder, 1990, 169), bemängelte die Argumentation als ungenau und bemerkte: "Diese Vorlesungen würden gewiß gewonnen haben, wenn sie nicht für empfindsame Seelen zugerichtet wären. Für diese mögen sie gut genug seyn." (zitiert nach Weiß, 1994a, 103*).
Neben dieser Rezension ist ein "Moderoman" von Christian Friedrich Timme von 1781-82 das einzige bisher ermittelte Rezeptionszeugnis der 'Vorlesungen'. Dort werden die beiden letzten Seiten der Schrift zitiert und selbige als "überaus gelehrtes und gründliches Werk" gelobt, das "allen Gegnern und Verleumdern der Empfindsamkeit ernstlichst anzuempfehlen" sei (zitiert nach Weiß, 1994a, 102*)
Seit dem frühen 19. Jahrhundert galten die 'Vorlesungen' als verschollen, als eines der "meistgesuchten Werke der Literatur der 'Goethe-Zeit'" (Weiß, 1994a, 73*). So wurde die Schrift in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im 'Deutschen Bücherschatz' des Sammlers und Kenners Wendelin von Maltzahn als "unbekannt" erwähnt. Gegen 1900 konnte der russische Lenz-Biograph Rosanow aus einem (wohl verschwundenen) Exemplar immerhin die Einzeltitel der Textabschnitte entnehmen und bekanntgeben
1910 publizierte Franz Blei in seiner Lenz-Ausgabe fälschlicherweise eine heute als 'Catechismus' bezeichnete Schrift unter dem Titel 'Baum des Erkenntnisses Guten und Bösen' und ordnete ihr die ersten beiden 'Supplemente' zu, die er im Lenz-Nachlass aufgespürt hatte (vgl. Weiß, 1994b, 33). Da er die Titelliste Rosanows scheinbar nicht kannte, merkte er zu den 'Vorlesungen' nur resigniert deren Unauffindbarkeit an.
Gerhard Sauder konnte die letzten beiden Seiten des Abschnittes 'Unverschämte Sachen' als Zitat in dem erwähnten Roman von 1781/82 auffinden, die durch Franz Werner 1981 veröffentlicht wurden (Werner, 1981, 287-289).
Nachdem eine 1985 von Richard Daunicht angekündigte Gesamtausgabe der Lenzschen Werke mit den 'Vorlesungen' als angeblichem Neufund nicht zustande kam, trat Christoph Weiß recherchierend in Aktion. Er startete eine eigene Rundfrage bei Bibliotheken, die zunächst ohne Erfolg blieb. Erst auf Hinweis des privaten Lenz-Kenners Jürgen Muck, vom 'Spiegel' als "Sherlock Holmes aus Schwaben" tituliert, fand Weiß schließlich ein Exemplar der 'Vorlesungen' in der British Library und konnte den Text 1994 als Faksimiledruck beim Röhrig-Verlag in St. Ingbert herausgeben.
Das Echo auf den Fund des "Rarissimum" (Ehrsam, 1995, 24) war gebührend: Zahlreiche Beiträge befassten sich mit dem Werk. Die editorische Leistung wurde allgemein gelobt. Das "informative" (Sommer, 1995, 242), "umsichtige" (Lütkehaus, 1994) und "ausführliche" (Fourie, 1996, 160) Nachwort von Christoph Weiß diente den Rezensenten und Journalisten als Fundgrube für Informationen, zitierfähige Formulierungen und erste Bewertungen.

1.2 Das moralphilosophische Umfeld der Vorlesungen

In seiner Straßburger Zeit von 1771 bis 1775 verfasste Lenz zahlreiche moralisch-theologische Aufsätze und Vorträge. Forum für seine Gedanken war der Kreis um Johann Daniel Salzmann und die schon genannte "Société de Philosophie et des belles Lettres". Dort diskutierten junge Schriftsteller und Studenten, dort brachte auch Salzmann seine Abhandlungen zum Vortrag.
In zwei seiner Schriften verweist Lenz ausdrücklich auf die 'Vorlesungen': Im sogenannten 'Catechismus', der um 1772, nach den 'Vorlesungen', entstand, heißt es im Zusammenhang mit Gottes Verbot und der Vertreibung aus dem Paradies: "siehe meine Abhandlung von der Koncupiszenz und von unverschämten Sachen" (vgl. Weiß, 1994b, 36). Auch in der kurzen Seelenlehre 'Meine wahre Psychologie' wird im Zusammenhang mit den "begehrenden Kräften" auf die 'Vorlesungen' verwiesen: "siehe meine Abhandlung vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen und der Konkupiszenz". In beiden Schriften geht es Lenz um die Sinnhaftigkeit göttlicher Verbote, die den Menschen, indem sie seiner Konkupiszenz Grenzen setzen, zum Handeln anregen und ihm seltene Befriedigungen veredeln. Gerhard Sauder (1994, 11) und Christoph Weiß (1994, 36) stellen den 'Catechismus' in engen Zusammenhang zu den 'Vorlesungen'. Die thematische Nähe ist aber begleitet von inhaltlicher Veränderung der Lenzschen Postionen. Gerhard Sauder konstatiert: "Angesichts der wenigen Wochen oder Monate, die zwischen der Fertigstellung der beiden Texte liegen, ist es allerdings auffällig, wie schnell Lenz seine zentralen Thesen und Begriffe variieren kann." (Sauder, 1994, 11). Wie Sauder treffend feststellt, wird im 'Catechismus' "die Liberalität der 'Vorlesungen' tendenziell wieder aufgegeben" und die Christus-Nachfolge statt der Empfehlung "empfindsamer Liebe" ins Zentrum gestellt (Sauder 1994, 12). Während Lenz in den 'Vorlesungen' noch die "verwünschte Dezenz" verurteilt, ereifert er sich im 'Catechismus' ganz entgegengesetzt darüber, dass "die Schamhaftigkeit aus unsern Büchern und Gesellschaften entflohen" sei (Weiß, 1994b, 42). Es erstaunt wirklich, dass beide Schriften in kurzem Abstand vom gleichen Autor stammen. Die editorische Vermischung der beiden Schriften durch Blei 1910 führte zu der skurrilen Folge, dass z.B. Rudolf 1970 eine "radikale Wendung" im Lenzschen Gedankengang feststellt und eine plötzliche Umbewertung des Konkupiszenz-Begriffes bemerkt (Rudolf, 1970, 209).
Neben den genannten Schriften sehen Sauder und Weiß auch den 'Entwurf eines Briefs an einen Freund der auf Academieen Theologie studirt', die Abhandlung 'Ueber die Natur unsers Geistes' und den 'Versuch über das erste Principium der Moral' im Umkreis der Thematik der 'Vorlesungen'. Im 'Entwurf eines Briefs an einen Freund' (1771/72 bis '74) beschreibt Lenz die moralische Freiheit des Menschen als durch die Gesetze der Natur eingeschränkt, was sich nur durch die Kultivierung seiner Vernunft verbessern lasse. Nur dadurch werde der Mensch glücklicher. Der 'Versuch über das erste Principium der Moral', eine ebenfalls um 1772 entstandene Schrift, benennt das Streben nach Vollkommenheit und nach Glückseligkeit als Kräfte, die zur Perfektion führen können: Besserungsorientiertes Handeln sei Bewegung, die von Gott unterstützt und mit stufenweiser Glückseligkeit belohnt werde. Gerhard Sauder bemerkt allerdings, dass Lenz die in dieser Schrift postulierten Grundprinzipien der Vollkommenheit und Glückseligkeit in keiner Weise auf die in den 'Vorlesungen' aufgestellte 'Sexualitätsthese' beziehe. Sauder resümiert, dass Lenz "jedenfalls nicht auf Systematik aus" sei und so "dissonantische Gedankenkonstrukte" entstünden (Sauder, 1994, 24). Für die weitere Analyse der genannten Schriften im übergreifenden und biographischen Zusammenhang sei auf die Monographie "Moral und Sexualität bei J.M.R. Lenz" von Christof Zierath verwiesen.
Auch im Briefwechsel mit seinem väterlichen Freund und 'Mentor' Johann Daniel Salzmann, den er in Straßburg kennen und schätzen lernte, erörtert Lenz Themen, die teilweise den Inhalten der 'Vorlesungen' sehr nahestehen. Der intensive Austausch ergibt sich, als Lenz seine Dienstherren, die Herren von Kleist, 1772 zum Militärstützpunkt Fort Louis und dann nach Landau begleiten muss.
So schreibt er von Juni bis August aus Fort Louis über seine Liebe zu Friederike Brion und die begleitenden Schamgefühle. Seiner gezügelte Leidenschaft problematisiert er vor dem väterlichen Tugendratgeber Salzmann derart, dass man hier eine persönliche Erfahrungsquelle für die Thematik der 'Vorlesungen' annehmen könnte. Aufgrund der unklaren Entstehungszeit der 'Vorlesungen' bleiben solche Überlegungen aber problematisch. Lenz erwähnt auch eine von ihm gehaltene Predigt in Sesenheim (Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, 266). In dieser habe er über schädliche Folgen des Hochmuts gesprochen. In den 'Vorlesungen' findet sich ein vergleichbarer Anklang am Ende des 3. Supplements (Lenz: Vorlesungen, 33).
In den Briefen im September aus Landau spricht Lenz seine Lektüre des Neologen Spalding an (siehe Kapitel 2.3.1) und freut sich, Salzmann mitzuteilen "dass andere mit uns nach demselben Punkt visieren" (Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, 271). Er erkundigt sich auch nach Salzmanns Abhandlungen und knüpft an das in Salzmanns Religion zentrale Ziel der Glückseligkeit an. Die Ausrichtung der Religion an der Glückseligkeit durchzieht auch die Argumentationslogik der 'Vorlesungen' (vgl. z.B. Lenz: Vorlesungen, 5) und ist wesentliches Element in der Neologie.
Die Schönheit nennt Lenz als seine "Lieblingsidee", auf die er alles reduzieren wolle (Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, 286). Diese Stelle kann sozusagen als Kommentar zum ersten Teil der 'Vorlesungen' gesehen werden, in dem die Schönheit als grundlegender Begriff eingeführt wird. Lenz betont auch, dass Gott die Menschen handelnd wolle.. Hier lässt sich ein Zusammenhang herstellen zu dem von Lenz betonten Handlungsanreiz, der im Widerspiel von Konkupiszenz und Verbot wirksam werde (Lenz:Vorlesungen, 15).
Zeichen seiner in dieser Zeit vollzogenen grundlegenden Auseinandersetzung mit Fragen des Glaubens sind Aussagen wie "Ich bin ein Christ geworden" oder die Bezeichnung des Glaubens als "complementum" der Vernunft (Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, 293).
Im September 1772 schreibt Lenz in einem Brief an seinen Vater: "Nach Straßburg schicke ich von Zeit zu Zeit kleine Abhandlungen an eine Gesellschaft der schönen Wissenschaften, die mich zu ihrem Ehrenmitglied erwählt hat [...]." (ebd., 269). Da die 'Vorlesungen' wahrscheinlich 1772 entstanden sind, kann davon ausgegangen werden, dass die Untersuchung der Briefe aus dieser Zeit durchaus zur Erhellung und zum Verständnis der Schrift beitragen kann. Die hier zusammengefassten Gedanken des Briefwechsels werden deshalb in Kapitel 2.2.2 anhand der entsprechenden Inhalte der 'Vorlesungen' weiter untersucht.


1.3 Beiträge zu Analyse und Bewertung

Der umfangreichste und sicherlich grundlegende Beitrag zur Einordnung und Analyse der 'Vorlesungen' ist das Nachwort der Druckausgabe (Weiß, 1994a), in dem Christoph Weiß ausführliche Informationen zu Edition und Rezeption gibt, den Bezug zum moralischen Diskurs mit Salzmann und dessen Umkreis herstellt und die Lenzsche Argumentationslinie analysiert. Weiß geht zunächst auf die Umstände von Entstehung, Herausgabe und Wiederauffindung der 'Vorlesungen' ein (vgl. auch Kapitel 1.1 dieser Arbeit). Er stellt dann die Verbindung zu anderen moraltheoretischen Schriften Lenz' her und behandelt sein Verhältnis zu Salzmann sowie dessen Schriften und Positionen.
In einigen kritischen Bemerkungen äußert sich Weiß auch zur Kontroverse um Lenz' Verhältnis zur Aufklärung. Er unterstreicht die Bestimmung des 'Sturm und Drang' als "Dynamisierung und Binnenkritik" der Aufklärung, weist aber eine Gegenüberstellung von "Vernunftherrschaft" (in der Aufklärung) und "Emanzipation des Begehrens" (im 'Sturm und Drang') als "holzschnittartig" zurück (Weiß, 1994a, 95*f.). Er wendet sich damit gegen Formulierungen aus den "S[turm] u[nd] D[rang]"-Thesen von Matthias Luserke und Reiner Marx (Luserke/Marx, 1992, 133). Marx und Luserke haben auf den kritischen Kommentar mit einer argumentativen Gegendarstellung reagiert (Marx/Luserke, 1995, 407f.). Darin halten sie Weiß unter anderem entgegen, dass er in "positivistischer" Weise eine "bürgerliche Kontinuitätsvorstellung im Denken von Autoren" voraussetze, wenn er von theoretischen Texten wie den 'Vorlesungen' auf die Interpretation von fiktionalen Texten, wie z.B. den Lenzschen Dramen, schließen wolle. Abgesehen von der Polemik der Auseinandersetzung, die auch Thorsten Unger in seiner Rezension des Bandes von Luserke feststellt (Unger, 1996b, 233), enthält der Streit einige interessante Argumente, die in Kapitel 3 aufgegriffen werden.
In ausführlicher Form haben sich auch Gerhard Sauder, Andreas Urs Sommer und Andrea Velez zu den 'Vorlesungen' geäußert. Gerhard Sauders Beitrag "Konkupiszenz und empfindsame Liebe" im 1994er Lenz-Jahrbuch folgt der inhaltlichen Dreiteilung der 'Vorlesungen' (Konkupiszenz – Erbsünde – Sexualität) und geht parallel zu einer gründlichen Zusammenfassung des argumentativen Inhalts abschnittsweise auf die diskursiven Zusammenhänge der Lenzschen Ausführungen ein. Er erörtert die Einflüsse und Anregungen, aus denen Lenz seine Ideen und Argumente bezieht. Im Abschnitt zur Konkupiszenz vergleicht Sauder die 'Vorlesungen' kritisch mit dem 'Catechismus', zeigt den Einfluss der Wolffschen Schule und Baumgartenscher Begrifflichkeit auf, vermutet Einflüsse von Moses Mendelssohn und analysiert natürlich die Anregungen durch Salzmann. Außerdem beleuchtet er quasi "im Schnelldurchlauf" die Entwicklung des theologischen Konkupiszenzbegriffs. Zum Erbsünden-Abschnitt gibt Sauder einen Überblick über die entsprechende Dogmenkritik der Neologen, deren Argumente sich Lenz zu eigen macht. Sauder beschließt seinen Aufsatz, indem er einerseits die Isoliertheit der "Sexualitätsthese" in der Unsystematik der Lenzschen Moraltheorie feststellt und andererseits am Beispiel der 'Soldatenehen' die Anwendung dieser These auf ein gesellschaftlich visionäres Konzept nachzeichnet. Sauder würdigt Lenz' verbale "Unverschämtheit" schließlich als dessen "mutige Sprachhandlung" (Sauder, 1994, 26).
Eine theologisch versierte Analyse der 'Vorlesungen' ist auch der Beitrag 'Theodizee und Triebverzicht' von Andreas Urs Sommer, in dem dieser die Aufregung um die wiedergefundene Schrift etwas relativiert. Er betont die "Inoriginalität" vieler Elemente bei Lenz und weist ihm in einigen Punkten eine Verhaftung mit orthodoxen Positionen nach. Mit seinen 'Zweifeln über die Erbsünde' wandele Lenz "auf dem breiten Pfad der Neologie" und bewege sich im "Fahrwasser der zeitgenössischen Kritik" (Sommer, 1995, 245/246). In Lenz' Befassung mit der sexuellen Begierde bleibe "ihre Verbindung mit dem Tod erhalten" und die Verbindung von Begierde und Vernunft zu einem "Konkupiszenzmonismus" werde "nicht zuende gedacht". Zwar attestiert Sommer den 'Vorlesungen' eine "geschichtsphilosophische Stoßrichtung", da sie von menschlicher 'Perfektibilität' ausgingen. Doch zu sehr bleibe Lenz einem historischen Schriftsinn der Bibel verhaftet und "orthodoxe Anklänge" schwächten die Innovationskraft seiner Argumentation. So konfrontiert Sommer "Lenzens exegetische Beflissenheit" am Ende seines Beitrags mit der Lichtenbergschen conclusio: "Die Bibel ist ein Buch von Menschen geschrieben, wie alle Bücher. [...] Je mehr eine Erklärung die Bibel zu einem ganz gewöhnlichen Buche macht, desto besser ist sie." (zitiert nach Sommer, 1995, 248). Sommer setzt so einen Kontrapunkt in der Beurteilung der 'Vorlesungen', die an anderer Stelle immerhin als "theoretisches Manifest" (Weiß, 1994a, 97*) einer Lenzschen "Enttabuisierungswut" (Luserke/Marx, 1992, 134) bezeichnet wurden.
Andrea Velez widmet ihren Aufsatz der Frage "Wie 'unverschämt' sind Lenz' 'Philosophische Vorlesungen' ?" und versucht eine Einstufung zwischen "konservativer Sexualmoral" und "tabubrechender Modernität" (Velez, 1996, 46). Sie will zu diesem Zweck die "diskursiven Systeme" zur Sexualmoral am Ende des 18. Jahrhunderts betrachten. Als wichtige Einflussgeber nennt sie Salzmann und den Livländer Theologen August Wilhelm Hupel. Das persönliche Anliegen, das Lenz mit den 'Vorlesungen' verfolge, sei "diejenigen zu trösten, die aus den äußeren Umständen heraus nicht in der Lage sind zu heiraten, d.h. ihre 'Konkupiszenz' nicht im Beischlaf befriedigen können" (ebd., 48). Er sichere seine Aussagen durch Anlehnung an die Diskurse der deutschen Aufklärung und der Neologie. Im Rückgriff auf die in den Abschnitten zur Konkupiszenz und zur Erbsünde erfolgten Diskursanbindungen wage er dann die "offene Rede über die Sexualität", mit "skandalösen Formulierungen" dringe er "kokett in die Tabuzone" ein (ebd., 50). Zum Abschluss ihrer Textanalyse kritisiert Velez in unklarer Weise Sauders Formulierung von der "mutigen Sprachhandlung" um dann mit Aussagen fortzufahren, die Sauders Position bestärken. Nicht ganz präzise ist auch ihre Einschätzung, Lenz sehe den Hauptzweck der Konkupiszenz in der Befähigung zu empfindsamer Liebe (ebd., 52), wo dieser doch die höchste homogene Schönheit dem Ehestand zuschreibt und die "empfindsame Liebe" nur als 'Notlösung' im Fall der unerreichbaren Ehe empfiehlt. In weiteren Abschnitten ihres Aufsatzes geht Velez auf die Einflüsse durch Hupel und Salzmann ein. Sie nennt wesentliche Standpunkte Hupels, der den Sexualtrieb als despotisch herschenden "sechsten Sinn" einstufe und dessen Auslebung einer "Versklavung" gleichstelle sowie die Verschneidung des Origenes als "Befreiung" lobe. Diese Standpunkte seien "neu überdacht" als ein Hintergrund zur Lenzschen Befassung mit der Sexualität denkbar (ebd., 54).
Neben den genannten umfangreicheren Arbeiten sind einige kürzere Artikel und Rezensionen zu nennen. In seinem Dossier-Beitrag "Unverschämte Sachen" in den Schweizer Monatsheften stellt Thomas Ehrsam zunächst die "Sensation" des Fundes der 'Vorlesungen' heraus und nennt die Entdeckung ein "Rarissimum". Die Schrift sei auch dem Inhalt nach bedeutsam, da die enthaltenen Lenzschen Gedankengänge "ins Zentrum von Lenz' geistiger Existenz" führten (Ehrsam, 1995, 24). Der Artikel gibt eine geraffte inhaltliche Zusammenfassung der 'Vorlesungen' und würdigt dabei den "hinreissend polemischen Impetus" der Lenzschen Erbsündekritik. Diese Dogmenkritik sei, so Ehrsam, "in Wirklichkeit eine Verteidigung der Willensfreiheit" und gehöre notwendig "zu dem (neben der Konkupiszenz) entscheidenden Begriff dieses Textes: zum Handeln" (ebd., 26). Diese Betonung des handelnden Menschen sei typisch für den Sturm und Drang. Die Gespaltenheit der Epoche, ihr "Janusgesicht" zwischen "provokantem Aufbegehren" und "Vernunftglauben", zeige sich in den 'Vorlesungen' ebenso wie die Zerrissenheit des Realisten und Philosophen Lenz. Der Glaube an die Perfektibilität des Menschen führe zu der Empfehlung, Sexualität 'empfindsam' zu sublimieren. Ehrsam stellt letztlich in Frage, ob Lenz wirklich an diese Möglichkeit der Triebumleitung geglaubt habe.
Die Rezension von Thorsten Unger in der Zeitschrift 'Das 18. Jahrhundert' weist wie die meisten Autoren auf die Bedeutsamkeit des Fundes hin und lobt Weiß' Entschluss, mit der Publikation nicht bis zum Erscheinen einer historisch-kritischen Ausgabe gewartet zu haben.. Weiß' Einschätzung, kein Autor außer Lenz habe der Sexualität einen vergleichbaren Stellenwert in seiner Anthropologie zugewiesen, bezeichnet Unger als etwas überzogen. Er rückt Lenz Erbsündekritk in die Nähe deistischer Positionen und nennt Reimarus' 'Apologie' als "geeigneten Horizont" (Unger, 1996a, 96). Abschließend wertet Unger die in den 'Vorlesungen' augenfällige Gleichsetzung von 'empfindsamer Liebe' mit sublimierter Sexualität als Bekräftigung entsprechender Forschungsthesen (vgl. Sauder, 1990).
Regine Fourie bespricht in ihrer Rezension im Jahrbuch für internationale Germanistik von 1996 die 'Vorlesungen' in Zusammenhang mit den Aktivitäten der Herausgeber des Lenz-Jahrbuches. Angesichts der dort geleisteten Begriffs- und Thesenbildung zum 'Sturm und Drang' fordert sie eine "feministische Kritik", um auch auf dieser Ebene die Grenzen des revolutionären Gehalts der 'Stürmer und Dränger' in den Blick zu nehmen (Fourie, 1996, 159). Diese berechtigte Anregung ist nachvollziehbar, bleibt aber leider ein Allgemeinplatz. Fourie bemängelt am schon genannten Aufsatz von Sauder, dass er die alleinige Ausrichtung der Lenzschen Sexualitätsthesen auf die Männlichkeit zwar am Rande feststelle aber nicht kritisch thematisiere. Fourie stößt sich z. B. an Formulierungen wie "Zugrunde liegt dieser Befürchtung die Auffassung, der Samen sei das Lebensfluidum des Menschen [...]" (Sauder, 1994, 21), die sich nach ihrer Meinung zuwenig von der Gleichsetzung von Mensch und Mann distanzierten.
Insgesamt bieten die genannten Beiträge vielfältige Ansatzpunkte zur tieferen Erschließung der 'Vorlesungen' und deuten auf eine Reihe diskussionswürdiger Themen hin, die mit der Lenzschen Schrift neue Aktualität und neues Belegmaterial erhalten haben.

2. Zu Inhalt und Kontext der "Vorlesungen"

2.0.0 Aufbau und Struktur im Überblick

Die 'Vorlesungen' sind von Lenz in sechs Abschnitte eingeteilt: Den ersten Teil mit dem Titel 'Baum des Erkenntnisses Gutes und Bösen' bezeichnet er auch als 'Abhandlung' und fügt dieser drei 'Supplemente' inklusive einer Anmerkung hinzu. In den Supplementen erweitert er seine Argumentation jeweils um wichtige Begriffe. Diese ersten vier Abschnitte bilden somit einen direkten thematischen Zusammenhang.
Der fünfte Abschnitt 'Einige Zweifel über die Erbsünde' ist als 'Anhang' bezeichnet und kann thematisch als zweiter Teil gelten. Der letzte Abschnitt mit dem Titel 'Unverschämte Sachen' ist ebenfalls in sich geschlossen und vervollständigt sozusagen die thematische Dreiteilung der 'Vorlesungen'. Diese Dreiteilung, an der sich auch Gerhard Sauders Aufsatz orientiert, wird in der folgenden Erörterung in den Kapiteln 2.1 bis 2.3 nachvollzogen.
Inhaltlich geht es in den Vorlesungen um die Bestimmung des Sinns menschlicher Triebhaftigkeit innerhalb eines christlichen Weltbildes und damit letztlich um eine Wert- und Funktionsbestimmung der menschlichen (insbesondere männlichen) Sexualität.
In 'Baum des Erkenntnisses Gutes und Bösen' wird die Begehrlichkeit oder Konkupiszenz als Wirkung der Schönheit abgeleitet. Die Hingezogenheit zum anderen Geschlecht und die Ehe erscheinen als Stufen bei der Annäherung an göttliche Schönheit. Im 'Supplement zur vorhergehenden Abhandlung' wird das (göttliche) Verbot der Konkupiszenz gegenübergestellt und beide als Handlungskräfte bestimmt. Zur Überwindung des Sündenfalls wird die tätige Jesus-Nachfolge empfohlen. Im 'Zweiten Supplement' geht Lenz vom Gesetz zum Evangelium über, bezeichnet das Gesetz als Grundlage des Handelns und bestimmt das Evangelium als den Weg zur Glückseligkeit. Im 'Dritten und letzten Supplement' propagiert er die 'Verhältnislehre' als die relative Bescheidung des Menschen auf das, was ihm zukommt, und die Vernunft als das Vermögen, selbiges zu erkennen..In dem Abschnitt 'Einige Zweifel über die Erbsünde' übt Lenz Dogmenkritk. Er greift die Erbsünde-Lehre an, indem er die einschlägigen Bibelstellen untersucht. Diese Kritik soll die orthodoxe Dogmatik seiner optimistischen Anthropologie aus dem Wege räumen.Im Abschnitt 'Unverschämte Sachen' setzt sich Lenz dann mit der Sexualität auseinander. Er stellt den Gefahren des Geschlechtstriebes dessen Segnungen entgegen und rät im Umgang mit dem Zwiespalt schließlich zur "empfindsamen Liebe".

2.1.0 Konkupiszenz, Gesetz und Evangelium

Im ersten Abschnitt der 'Vorlesungen', der mit dem Titel 'Baum des Erkenntnisses Gutes und Bösen' versehen ist, geht es um Schönheit als grundlegendes Prinzip und Konkupiszenz als treibende Kraft.
Schönheit wird von Lenz als Übereinstimmung bestimmt. Ideale Schönheit sei demnach objektive Übereinstimmung einer Sache in sich, unabhängig vom erkennenden Subjekt. Homogene Schönheit basiere auf (teilweiser) Übereinstimmung des Objekts mit dem erkennenden Subjekt, sei also von diesem abhängig, Der Übergang von homogener zu idealer Schönheit erfordere, dass wir "unser Ich so weit erheben", dass durch Aufhebung der Subjektivität völlige Übereinstimmung erfolge (Lenz:Vorlesungen, 4). Die innere Harmonie der Schöpfung gilt Lenz als höchste ideale Schönheit, darin zeige sich Gott. Somit sei alles homogen Schöne auch Teil der idealen Schönheit und werde von ihr umfasst.
Schönheit ist nach Lenz für den Menschen Anreiz: "Alle Schönheit erregt ein Ergetzen, ein Wohlgefallen, welches in Wunsch, und, wenn dieser Wunsch fortgesetzt wird, in Neigung und Bestreben übergeht." (ebd., 5) Die beschriebenen Formen der Schönheit seien von unterschiedlicher Wirkung. Homogene Schönheit reize die Konkupiszenz (das Vereinigungsstreben), während ideale Schönheit zur Nachahmung reize. Konkupiszenz ist für Lenz Gottesgabe, weil Grundlage für Glückseligkeit: Ohne Begierde entstehe kein Genuss und ohne Genuss keine Glückseligkeit. Konkupiszenz könne aber übereilt durch vermeintliche Homogenität stimuliert werden, deshalb sei Vorsicht und gespannte Zurückhaltung nötig. Man solle das Objekt der Begierde stets auf "Kongruität mit allen Theilen unsers Ich" prüfen (ebd., 6).

"Auf dem Wege des verhältnismässigen Genusses" homogener Schönheit bewege man sich zur vollkommensten Homogenität. Darunter versteht Lenz die Geschlechterhomogenität in der Ehe. Der Ehegenuss solle dann Schwung verleihen, zu idealer Schönheit, d.h. zu Gott, überzugehen (ebd., 8-9). Der Weg über diese Stufen erfordere Geduld und vorläufigen Verzicht. So appelliert Lenz an den Leser (oder Hörer): "Behalte also deine Konkupiszenz gespannt, Jüngling, damit ihr Pfeil nicht vor dem Ziel niederfalle." (ebd., 10). Es lohne sich, so Lenz, die "Harmonie der Umstände" abzuwarten und einen schönen Körper darauf zu untersuchen, "ob der Kern dieser Schale würdig sei" (ebd., 12). Im stufenweisen Prozess der Schönheitswahrnehmung könne man "eine Sprosse nach der andern auf der grossen Leiter empor zu ihm klimmen, rükwärts hinab schauen und mit Tränen der Entzückung ihm nachflüstern: es ist gut ! es ist gut." (ebd., 13).
Im 'Supplement zur vorhergehenden Abhandlung' beschreibt Lenz dann Konkupiszenz und Verbot als Handlungskräfte. Gott habe das Verbot im Paradies gesetzt, weil er den Menschen "handelnd und nicht bloß leidend" (ebd., 15) wolle und aktive Handlung wie jede Bewegung Kraft und Gegenkraft brauche. Im Widerstreit von Verbot und Konkupiszenz entstehe "Freiheit im Handeln", sogenannte "Velleität". Lenz Schlussfolgerung aus dieser 'kinetischen' Logik lautet: "Gott, um unserer Konkupiszenz den höchsten Schwung zu geben, uns zur Handlung zu determinieren, musste verbieten." (ebd., 16/17).
Die Verbotsübertretung (im Sinne eines repetierten Sündenfalls) lasse die Konkupiszenz absterben, bewirke Willensleere, Erschlaffung bis hin zum Tod: "leerer, entsetzlicher Zustand" (ebd.,17). Jesus könne dagegen die Wiedergeburt bringen, wenn der Mensch die "Erbschäden" Trägheit und Furcht überwinde und sich zu Taten aufschwinge. Gott helfe dem Tätigen, der mit Blick auf ideale Schönheit Jesus nachahme und auch anderen Menschen "Lebensfeuer" gebe, durch innere Stärkung: "Wieder einmal gewollt ! empor sich gearbeitet, nach den leichtesten Gesetzen, die du nur finden kannst: Gott wird deine Bemühungen unterstützen." (ebd., 20)
Im 'Zweiten Supplement' steht die Überwindung des Gesetzes durch das Evangelium im Vordergrund. Gesetze ermöglichten zweierlei Handlungsarten: Böse Gesetzesverstöße und gute, über das Gesetz hinausgehende Wohltaten, i.e. "ethische" Handlungen. Reine Gesetzeseinhaltung (wie Fasten, Beten usw.) bezeichnet Lenz als Untätigkeit. Um ethisches Handeln vorzuleben, sei Jesus in eine Gesellschaft gekommen, in der gesetzliche Ordnung herrschte da nur dort Übertreffung von bestehenden Normen des Wohlverhaltens möglich sei. Das Evangelium bedinge also das Gesetz: "Ohne Gesetz wäre kein Evangelium möglich - folglich auch keine Glückseligkeit [..]." (ebd., 24). Wer das Gesetz verachte, habe keine Aussicht auf echtes Wohlempfinden, da "Dissonanz" erhalten bleibe und die Dauer "eine zu fürchterliche Probe" für die Freude am Ungesetzmäßigen sei (ebd., 26).
Das Evangelium kennzeichnet Lenz als die frohe Botschaft Jesu, dass Glückseligkeit durch Glauben und Handeln erfahrbar sei. In seinem Leben habe Jesus das gezeigt. Beim Versuch, Jesus nachzufolgen, werde man unterstützt, wenn man Christi Sinn und Liebe annehme, aber "alle eure schönen Träume und Eingebungen sind umsonst, wenn ihr nicht Christi Sinn annehmt" (ebd., 28) und nach seinen Taten werde jeder vor Gott gerichtet werden. Durch Studium der Gesetze Gottes (in Natur oder Bibel) und praktiziertes Evangelium könne man sich in ethischer Handlung "über das Gesetz, über die Regel des Rechts erheben" (ebd., 28).
Das 'Dritte und letzte Supplement' behandelt die "Verhältnisse", in die sich menschliches Handeln zu setzen habe. Vernunft wird bestimmt als das "Vermögen, diese Verhältnisse einzusehn", d.h. die eigene Bestimmung und den eigenen Wert wahrzunehmen (ebd., 29). Hochmut, Stolz und Ehrgeiz seien Abweichungen davon. Gottes Gnade mache, so Lenz, ohne Verdienst gerecht, in Demut solle man sich nur an Gott messen: "Messt euch doch nie an andern Menschen [..] messt euch am großen Archetypus aller Vollkommenheit, da habt ihr ewig zu messen und bleibt ewig nichts gegen alles." (ebd., 33). Wahre Tugend solle keine äußere Anerkennung anstreben, sondern gemäß der Bergpredigt im Verborgenen bleiben.
Nach seiner Herleitung der Jesus-Nachfolge als richtig genutzter Handlungsfreiheit, die sich in einer Welt voll gottgegebener Schönheit im Spannungsfeld von Konkupiszenz und Verbot notwendig ergebe, beschließt Lenz den ersten großen Teil seiner 'Vorlesungen' also mit einem Plädoyer für die Kraft tugendhafter, handelnder Vernunft, die sich aus eigenem Willen in Gottes Ordnung einfügen könne.

2.1.1 Salzmann und Lenz

Johann Daniel Salzmann war in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts zentrale Figur einer Straßburger Tischgesellschaft, einem Diskussionsforum für Studenten und junge Autoren. Im Hause der Schwestern Lauth in der Knoblochgasse wurden vor allem religiöse, anthropologische und moralische Fragen erörtert, hier verkehrte auch Goethe in den Jahren 1770 und 1771. "Aktuarius" Salzmann, ungefähr eine Generation älter als die meisten Teilnehmer der Tischgesellschaft, genoss eine hohe Anerkennung und geradezu väterliche Autorität. In Goethes Worten "ein Mann, der durch viel Erfahrung mit viel Verstand gegangen ist", war Salzmann mit seinen ausgereiften und zugleich dem gesunden Menschenverstand verpflichteten Gedanken zu Moral, Empfindungen und Religion wesentlicher Einflussgeber der Runde. Als "Gelehrte Übungsgesellschaft" hatte er sie in den sechziger Jahren gegründet und den Vorsitz übernommen. Im Kern stimmte der Personenkreis wohl mit den Teilnehmern der "Société de Philosophie et des belles Lettres" überein.
Durch eine Reihe von Vorträgen, später als Abhandlungen "über einige wichtige Gegenstände aus der Religions- und Sittenlehre" durch Goethe in Druck gegeben, lieferte Salzmann wichtige Beiträge zu einer sittlichen Popularphilosophie, die in der Glückseligkeit des religiösen Menschen ihr großes Leitbild hatte. Er folgte in seinen Abhandlungen der Absicht, "die Wahrheiten der Moral und Religion" so vorzustellen, "daß sie zugleich unsern Menschenverstand und unser Herz vollkommen befriedigen können" (Salzmann: Abhandlungen, 4). Jung-Stilling charakterisierte ihn als Verpaarung eines "gründlichsten und empfindsamsten Philosophen" mit "echtestem Christentum" (zitiert nach Weiß, 1994a. 86*). Der "Vertreter eines hohen menschlichen Ranges und einer tätigen Hingabefähigkeit" (Fuchs, 1966, 14*) war vielseitig interessiert und voller pädagogischer Ambition.
Lenz stieß wohl im Sommer 1771 zu dem Kreis um Salzmann hinzu und erschien "während seines ganzen Aufenthaltes in Straßburg, als eines der eifrigsten Mitglieder der Uebungs-Gesellschaft" (Stöber, 1855, 28). Im Laufe des Jahres 1772 hielt Salzmann drei seiner genannten Vorträge und in jenem Sommer stand er mit Lenz, wie schon in Kapitel 1.2. erwähnt, in regelmäßigem Briefwechsel.
Der von Lenz stets ehrfurchts- und liebevoll angesprochene Salzmann hat mit seinem auf Glückseligkeit ausgerichteten Verständnis von Religion und Lebenssinn und seinen optimistischen Auffassungen über Willensfreiheit und Perfektibilität sicherlich den Lenzschen Wunsch genährt, Begierde und Religiosität zu versöhnen. Ausgangsthema des Briefwechsels waren Lenz' Besuche in Sesenheim bei Friedrike Brion und die dabei entstandene Verliebtheit. Seinem "teuersten Freund", seinem "Sokrates" offenbart Lenz seine melancholische, verwirrte Gemütslage im Juni 1772 in mehreren Briefen aus dem Militärstützpunkt Fort Louis.
In einem Brief an seinen Vater aus dem selben Monat erwähnt Lenz neben einem "liebenswürdigen Zirkel von Freunden" auch den ihm "gar zu teuren" Salzmann und bringt dessen Stellenwert selbst auf den Punkt: "O wenn ich einen so erfahrenen liebenswürdigen Mentor nicht hier zur Seite gehabt, auf welcher Klippe würde ich jetzt nicht schon schiffbrüchig sitzen ?" (Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, 258). Es erscheint absolut angebracht, mit Gerhard Sauder Salzmann als Lenz' "bedeutendsten Anreger" zu bezeichnen (Sauder, 1994, 13). Die gefühlsarme strenge Haltung des leiblichen Vaters und die emotionale Intensität, die Lenz Salzmann entgegenbrachte, lassen ihn auch psychologisch als die Vaterfigur erscheinen, die Lenz Anerkennung und Zuwendung gewährte, welche aus dem Elternhaus versagt geblieben war. Des weiteren ist sicher zu unterstreichen, was August Stöber über Salzmann bemerkte: "Der Umstand, daß er unverheiratet geblieben war, trug nicht wenig dazu bei, jungen Männern den Zugang bei ihm zu erleichtern." (Stöber, 1855, 20).
An vielen Stellen des Briefwechsels wird deutlich, wie Lenz sich vor der moralischen Autorität seines väterlichen Freundes (verbal) verbeugt. Als "unaufhörlich ergebenster Freund" will Lenz sich Salzmanns Weisheit "geduldig unterwerfen" (Lenz: Werke und Briefe, Bd.3, 256), er "gesteht" ihm die Liebelei mit Friedrike und "fürchtet" sich dabei (ebd., 254). An anderer Stelle bezeichnet er Salzmann als seinen "sanften, freundlichen Arzt" oder stellt sich seinem "Sokrates" als dessen Schüler "Alcibiades" gegenüber (ebd., 264f.). Er kokettiert mit der "Waghalsigkeit" seiner Jugend und schmeichelt der Weisheit und Vorsicht des Alters (ebd., 266). Die Verliebtheit zu Friedrike bleibt in den Briefen aus Fort Louis das wiederkehrende Thema, in dessen Umfeld er diese Stilisierungen variiert.
Die Briefe aus Landau sind aus naheliegenden Gründen nüchterner und enthalten auch zunehmend Passagen religiös-moralischer Reflexion. So erwähnt er beispielsweise die Wichtigkeit der Begierde für die Intensität von Genuss und Glücksgefühl: "Um also glücklich zu sein, sehe ich wohl, werde ich künftig nur immer an meinem Magen arbeiten, nicht an der Mahlzeit, die ich ihm vorsetze." (ebd., 275). Ganz ähnlich sieht er die Rolle der Konkupiszenz auch in den 'Vorlesungen': "Genuß kann kein Vergnügen bringen, ohne zuvor begehrt zu haben. Nur der Hunger kann die Mahlzeit würzen." (Lenz: Vorlesungen, 15).
Hinweise auf Lenz' jeweilige Lektüreschwerpunkte durchziehen die Schreiben. Unter anderem berichtet er von seiner Begeisterung über Spaldings "Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthume" und Winckelmanns Geschichte der Kunst. Später nennt er eine "große Nürnbergerbibel", sowie Homer und Plautus als seine wichtigste Lektüre. Sich selbst sieht er schon "ganz Philosoph geworden" (ebd., 275). Im Oktober erwähnt er ein beigefügtes "Blättgen mit einer Hypothese", auch der Duktus der Briefe wird erörternder, der Tonfall ernster und schwerwiegender.
Die Ausführungen sind zunächst geprägt vom Bemühen um die verstandesmäßige Erfassung des Schöpfungssinnes und der Herkunft von Gut und Böse (ebd., 280f.). Dabei streift er den Begriff der Erbsünde als "einer uns angebornen Trägheit" und setzt sich mit der göttlichen "Gnade" auseinander, die sich in Jesu Christo offenbart habe. Er stellt dabei, ganz im Sinne seiner Gegenüberstellung von Evangelium und Sündenfall in den 'Vorlesungen', die "Gnade" der "Trägheit" gegenüber und stellt fest: "Gott unterstützt die in uns gelegten Kräfte, wie in der ganzen Natur, ohne sie zu lenken" und ermögliche so "an unserer Besserung mit allen Kräften unserer Seele zu arbeiten" (ebd., 283/284).
Obwohl Salzmanns Antwort auf diesen Brief von Lenz so empfunden wird, als beliebe jener ihm seine "kleinen System alle zu zerstören und zu schleifen" (ebd., 284), bleibt Lenz sich doch sicher, dass an ihm "von Kindesbeinen an ein Philosoph verdorben" sei (ebd., 285). Er kontrastiert seine eigene Denkweise mit der Salzmanns, indem er dessen "Lieblingsidee" ("die Liebe") und seine eigene "Lieblingsidee" ("die Schönheit") kontrastiert. In seiner Gewißheit, "daß die letztere die einzige Idee ist, auf die ich alle andern zu reduzieren suche", sowie der Vorstellung, dass "die Schönheit selber Grade hat" zeigt sich das Grundmuster des begrifflichen Auftakts der 'Vorlesungen’ ebenso wie in der synonymen Verwendung von "höchster Übereinstimmung" zur Bezeichnung von Gott (ebd., 286). Die Definition der "höchsten idealen Schönheit" in den 'Vorlesungen' passt bezeichnenderweise genau zu diesem Begriffssinn.
Während die "Schönheit" also genannt wird, sucht man den Begriff "Konkupiszenz" in allen Briefen vergeblich. In den 'Vorlesungen' dominiert der Konkupiszenzbegriff so klar, dass man ihn noch vor der Schönheit als Lenz' "Lieblingsidee" konstatieren müsste. Wie Andrea Velez zutreffend anführt (Velez, 1996, 54), ist für Salzmann die Liebe die "die einzige Quelle unserer Glückseligkeit" (Salzmann: Abhandlungen, 31), während Lenz die Konkupiszenz als "herrlichste aller Gaben Gottes" und "dem Menschen zur Glückseligkeit nothwendig" herausstellt (Lenz: Vorlesungen, 14). Von dieser Verschiebung des zentralen Schwerpunktes zwischen den Auffassungen Salzmanns und Lenz' ist in den Briefen (noch (?)) nichts Konkretes zu erkennen.
Den bisher genannten zwei Briefen vom Oktober folgen vier weitere im selben Monat, in denen die "philosophischen" Betrachtungen fortgeführt werden. So sinniert Lenz "warum Gott das Gute für unsere Natur schwerer gemacht hat" und ist sich sicher, dass Gott für den Menschen Handlungsanreize geben wolle, denn die menschliche Seele sei "nicht zum Stillsitzen, sondern zum Gehen, Arbeiten, Handeln geschaffen" (Lenz: Werke und Briefe, Bd.3, 288). In dieser Auffassung sind sich die beiden durchgehend einig: Sowohl in den 'Vorlesungen' und anderen Schriften von Lenz als auch in Salzmanns 'Abhandlungen' spielt die Bestimmtheit des Menschen zum Handeln eine zentrale Rolle. In der brieflichen Diskussion ist nur kontrovers, nach welchem inneren Kräftespiel diese Handlungsanreize funktionieren könnten. In mechanistischer Weise operieren die beiden mit Triebkräften wie "vis activa" oder "vis inertiae" (ebd., 289), in den 'Vorlesungen' ist in noch stärkerer Analogie zur Physik die Rede von "primus movens", "vis centrifuga" und "vis centripeta" (Lenz: Vorlesungen, 16/17). Wie Gerhard Sauder feststellt, hat die Betonung des Handelns sogar "bis in die Lenzsche Produktionsästhetik gewirkt" (Sauder, 1994, 14).
An dem Stil des letzten überlieferten Briefes vom Oktober 1772 lässt sich schließlich erkennen, dass Lenz starke innere Veränderungen durchlaufen und auch im Verhältnis zu Salzmann einen Prozess der Reifung vollzogen hat. Dies kommt schon zum Ausdruck, wenn er den Brief mit dem Vorsatz beginnt: "ich will, von jetzt an, immer ohne Titel an Sie schreiben". Er sieht sich und Salzmann nunmehr als "Geister", die "zueinander treten und sich miteinander besprechen", ohne dass dabei der "Scharrfuß" der verbalen Verbeugung vonnöten sei (Lenz: Werke und Briefe, Bd.3, 293). Lenz bringt in den folgenden Sätzen dann explizit zum Audruck, dass in ihm eine Veränderung vorgegangen sei, dass er "ein Christ geworden" sei. Christoph Weiß deutet dies als Ergebnis einer "tastenden Emanzipation von den überkommenen Vorstellungen, die seine Erziehung in ganz besonderem Maße geprägt haben" (Weiß, 1994a, 92*). Dem ist insofern zuzustimmen, als Lenz sowohl in seinen Glaubensinhalten als auch in seiner Selbstbezeichnung "kein orthodoxer" evangelischer Christ mehr ist. Er hat seine Auffassungen als "Fazit einer aufmerksamen Lesung der Evangelisten" (ebd., 295) im Sinne der Glückseligkeitstheologie Salzmanns oder auch der "nach dem selben Punkt visierenden" Neologie Spaldings überdacht und auf eigene Füße gestellt. Diese Entwicklung war mit großer Wahrscheinlichkeit ein Beitrag zu den Glaubenspositionen, die auch als Grundlage der 'Vorlesungen' anzusetzen sind.

2.2.0 Kritik der Erbsündelehre

Aus den Darlegungen seiner Konkupiszenztheorie ergibt sich für Lenz eine Schwierigkeit: Die Begierde wurde in der traditionellen augustinischen Lehre von der ewigen Verdammnis als sündhafte Kraft aufgefasst. Diese orthodoxe Lehrmeinung stand zu Lenz' Zeit zwar in der Kritik, existierte aber weiterhin und war noch nicht überwunden.
Im Abschnitt 'Einige Zweifel über die Erbsünde' bezeichnet Lenz demnach eine Kritik an der Erbsündelehre als notwendig. Undogmatisch betrachtet sei die Erbsündelehre unhaltbar, weil sie weder Gott noch den Menschen zuträglich sei. Vielmehr sei sie schädlich im Hinblick auf die Vervollkommnung des Menschen. Solchem Aberglauben, solchem von "bösen Geistern" gesäten "Unkraut" will er vernünftige Betrachtungen entgegensetzen: "Ist es denn auch vernünftig anzunehmen, daß der erste Mensch durch einen Fehltritt alles das wieder habe verderben und verhudeln können, was der allmächtige Schöpfer weis und gut geschaffen." (Lenz: Vorlesungen, 37).
Lenz' Vorgehensweise lautet: "unbefangen in die Bibel sehen" (ebd., 38). Den üblichen Belegstellen für die Erbsündelehre spricht er dabei ihre vermeintliche Evidenz ab. In der Genesis finde er "keine Spur von Erbsünde". Der Sündenfall erscheine zwar als Ursache für die menschliche Sterblichkeit aber nicht für erbliche Sündhaftigkeit. Im Römerbrief sei Adam Allegorie des sündigen Menschen, nicht aber Ursprung der Sünde. Die "Hauptabsicht in der Epistel an die Römer" sei, zu zeigen, dass alle Menschen als real sündigende Subjekte gleichermaßen in die Gnade Gottes und die Sündenvergebung durch Christus einbezogen seien. Lenz empfiehlt zum besseren Verständnis den Begriff "Sünde" im Sinne einer "Handlung, die mich in der Folge unglücklich macht" aufzufassen (ebd., 41). Auch die Sünden, die zur Sintflut führten, waren nach Lenz konkrete sündige Handlungen und keine Erbsünde. Als menschliche Gedanken oder Handlungen seien sie Produkt der Willensfreiheit und: "es [..] heißt euch keiner so zu tichten und zu trachten, wenn ihrs nicht selber wollt" (ebd., 43). Auch im Bußpsalm Davids büße dieser nicht Erbsünde, sondern seine sündhafte Tat. Er sei um die Reinerhaltung seines Geschlechts bemüht. Wenn David gestehe: "an dir allein hab ich gesündigt", spreche er "die Person Christi an, fleht, es möchte diese Schuld nicht auf der Linie haften, aus der einst der Messias sollte geboren werden" (ebd., 44/45).
Sterblichkeit ergebe sich aus der sündhaften Einzelhandlung ebenso wie aus der Sünde Adams. Wer nicht sündige sondern gut handele, brauche den Tod aber nicht zu fürchten: "versucht gut zu handeln, euren Geist in der Ordnung Gottes zum Guten und der Wahrheit wirksam sein zu lassen, bis er sich in Thaten äußern kann, so werdet ihr von der Erbsünde, oder der bösen Thätigkeit, der Geschäftigkeit eures Geistes zum Bösen, in der eigentlich der Tod besteht, nichts zu beförchten haben." (ebd., 48). In der Erbsünde sieht Lenz letztlich auch die Gefahr, dass sie als Entschuldigung verwendet werde, indem alles "auf die Rechnung der Erbsünde" gesetzt werde Durch "ein paar herzliche Seufzer über unsere böse Erbsünde" hofften untätige Menschen, "doch seelig zu werden" (ebd., 49).
Mit diesem umfassenden argumentativen Angriff auf das Erbsündendogma, versucht Lenz seinen positiven Konkupiszenzbegriff zu stärken und die menschliche Begierdefähigkeit vom unsauberen Beigeschmack einer sündhaften Veranlagung zu befreien.

2.2.1 Neologische Erbsündekritk

Wie Gerhard Sauder feststellt, sind Lenz' Zweifel an der Erbsünde "nicht originell", vielmehr benutze er "kritische Argumente der Neologen, die seit den vierziger Jahren vorgetragen wurden." (Sauder, 1994, 21).
Neologie ist die Bezeichnung für eine theologische Denkrichtung des 18. Jahrhunderts, deren Name im Sinne einer "neuen Lehre" (Müller, 1984, 289) oder auch "modernen Theologie" (Lexikon für Theologie und Kirche, 1998, 736) verstanden werden kann, die ihre entscheidende Wirkungsphase etwa zwischen 1740 und 1790 hatte. "Neu" und "modern" waren die Positionen dieser um Ausgleich mit der Aufklärung bemühten Vertreter des deutschen Protestantismus insofern, als sie "mit der wissenschaftlichen Bildung ihres Volkes und ihrer Zeit mitgehend, die theologische Lehrart aufbessern" wollten (Hirsch, 1949, 9). In den Kirchenleitungen und Universitäten, vor allem in Halle, verschafften Männer wie Jerusalem, Eberhard, Spalding und viele andere der neologischen Theologie zunehmend Gewicht.
Ganz im Sinne Wolffscher Philosophie, gingen sie davon aus, dass Offenbarung und Vernunft sich in Harmonie miteinander befänden. Zur Vernunft zählten sie "nicht nur den logischen Verstand, sondern auch Willen und Gefühl" (RGG, 1957, 726). Im Glauben an die "Perfektibilität" des mit Vernunft und Glauben ausgestatteten Menschen, stellten sie die allgemeine Verständlichkeit, die "Simplicität" und die Verankerung der religösen Botschaft durch empfundene "Selbsterfahrung" in den Mittelpunkt ihrer Lehre. Die Neologen verteidigten zunächst die historische Zuverlässigkeit und bleibende Gültigkeit der biblischen Offenbarung gegen Tendenzen der 'Freigeister' und 'Naturalisten', übten jedoch scharfe Kritik an bestimmten Momenten dogmatischer Tradition, so z.B. der Lehre von der Erbsünde. Das Christentum galt ihnen als "Wiederherstellung und Kräftigung jener natürlichen Religion, die der menschlichen Vernunft durch Uroffenbarung eingegeben, geschichtlich jedoch depraviert war" (Lexikon für Theologie und Kirche, 1998, 736).
Die Bezeichnung "Neologie" ist im nachhinein entstanden, es handelt sich um keine selbstdefinierte "Bewegung" oder "Schule". Ganz im Gegenteil hat die Neologie als eine Entwickungstendenz "über Einsicht und Willen jedes ihrer Träger hinausgeführt" (Hirsch. 1949, 9).
Als einer der bedeutendsten und wirksamsten Vertreter einer "Begrenzung der theologischen Lehrsätze auf das in praktischer Erfahrung als wahr Erlebbare" (ebd., 15) soll hier Johann Joachim Spalding genannt werden. Wie schon in 2.2.2 erwähnt, ist durch einen Brief an Salzmann erwiesen, dass Lenz sich mit Spaldings Theologie auseinandergesetzt hat. Spalding bekleidete unter Friedrich dem Großen hohe Kirchenämter, seine Schriften waren beliebt und viel gelesen. Er propagierte, den Menschen das Christentums auf einfache und erlebbare Weise nahezubringen, so dass sie innerlich, d.h. mit Herz, Gewissen und Verstand, überzeugt würden. Sein entscheidendes Ziel war, die Menschen in ihrer Beziehung auf Gott, ihr Gewissen und die zukünftige Welt glücklich zu machen. Er wollte die Gläubigen ermuntern, Gott zu gefallen, die Ruhe eines guten Gewissens zu genießen und zu einer glücklichen Ewigkeit geschickt zu werden. Nach seinem Kriterium der "Nutzbarkeit" waren nur Lehren, die Trost und Besserung des Menschen im Sinne des Evangeliums versprachen, wichtig für Predigt und Unterricht (vgl. Hirsch, 1949, 15f.).
Gerhard Sauder hat nachgezeichnet, wie die aufklärerisch motivierte Erbsündenkritik von ihren philosophischen Ursprüngen bei Gottsched und ihren theologischen Ansätzen bei Jerusalem ausgehend von allen wichtigen Vertretern der Neologie aufgenommen wurde und "ihren Höhepunkt in den siebziger Jahren" erreicht habe (Sauder, 1994, 19f.). Der in dieser Zeit erfolgende "Sturmangriff auf die Erbsündenlehre" (Aner, 1929, 298) hat sicherlich seine Wirkung erzielt. Zumindest nach Auffassung von Andreas Urs Sommer muss das Erbsündedogma um 1780, zur Zeit der Herausgabe der 'Vorlesungen', als eine "längst widerlegte Lehre" verstanden werden (Sommer, 1995, 246). Zur Zeit der Entstehung der 'Vorlesungen' dürfte Lenz mit seiner kritischen Stoßrichtung aber sozusagen noch "im Trend" gelegen haben. Jene Zeit war, so Karl Aner, "im hochgemuthen Kampf zwischen Herz und Welt" begriffen. "Aus derselben Wurzel stammt der Sturm und Drang, stammt die Neologie." (Aner, 1929, 165). Und so waren Lenz und Spalding gewissermaßen Herzensverwandte in ihren als nötig empfundenen Zielen der Besserung des Menschen, der Versöhnung von Glauben und Einsicht. Vor diesem Hintergrund war es geradezu selbstverständlich, Gegner der Erbsünden- und Erbschuldlehre zu sein.
Auch in seinem 'Glaubensbekenntnis' in dem letzten der überlieferten Briefe aus Landau an Salzmann zeigt sich Lenz von Spaldings Theologie beeinflusst, wenn er den Glauben als "eine notwendige Gabe Gottes" bezeichnet, weil "bei den meisten Menschen die Vernunft noch erst im Anfange ihrer Entwicklung" sei (Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, 293). Die Rede von den sich ergänzenden Zugängen zur Religiosität, die im "moralischen Glauben" aus "Empfindung" und der "Überzeugung der Vernunft" komplementär angelegt seien, ist sehr nah an Spaldings Auffassung, dass "die natürliche auf bloße Vernunft gegründete Religion" sich angesichts der menschlichen Schwäche sich ausreichend ausbreiten könne und auf "das Licht des Evangeliums" angewiesen sei (vgl. Hirsch, 1949, 17). Auf weitere Übereinstimmungen zwischen den Salzmann-Briefen und Spaldings Theologie weist auch Ottomar Rudolf hin (Rudolf, 1970, 49f.).

2.3.0 Sexualität - ihre Bedeutung und Bändigung

Im Abschnitt 'Unverschämte Sachen' arbeitet sich Lenz über die Zwiespältigkeiten gezähmter Begierde bis zur Empfehlung 'empfindsamer Liebe' vor. Zunächst geht er auf die Widrigkeiten des Sexualtriebes ein. Den heftigen "Trieb sich zu gatten" charakterisiert er als schwer durch Vernunft kontrollierbar und potentiell schädigend für Gesundheit und Lebensenergie. Das könne, so Lenz, unzufrieden mit dem Schöpfer machen und führe so weit, dass "gewisse kurzsichtige Pygmäen" deswegen den Geschlechtstrieb als Erbsünde verteufelten und seine Ausmerzung propagierten. Die Empfehlung sich zu "verschneiden" und damit dem Beispiel des Pater Origines zu folgen, sei der "unfreundliche Rath", der von dieser Seite zu erhalten sei. Dem will sich Lenz nicht anschließen (Lenz: Vorlesungen, 52).
Obwohl schädlich, sei der Geschlechtstrieb ein Segen Gottes. Die Gefahren von Krankheit und Schwächung könnten "in der Stunde der Versuchung" das Triebvergnügen nicht wirklich überdecken. Die Stärke und Allgegenwart des Geschlechtstriebes in der Natur erwiesen ihn als "Institut" der Glückseligkeit, das einem "allgütigen Schöpfer würdig" sei. "Welch ein Vater !", jubelt Lenz über den Schöpfer, der seine Geschöpfe so umfassend mit der Fähigkeit zur Glücksempfindung ausgestattet habe (ebd., 55). Es liege auch "höhere und edlere Absicht" in der Triebausstattung: Die naturgemäß auseinander strebenden Einzelkreaturen würden durch ihren Geschlechtstrieb "mit einem gemeinschaftlichen Bande" wieder zusammengeführt. Diese Bindung könne sogar unter Tieren eheähnliche Form annehmen (ebd., 56).
Ursprünglich habe Gott die "Gehülfschaft" von Adam und Eva durch die Beigabe des Geschlechtstriebes gesegnet, ihnen "gleichsam sein Hochzeitsgechenk von Glükseeligkeit" gemacht. Diese Gabe überdauerte den Sündenfall und Adam habe es verstanden, sich für den Verlust des Paradieses "auf keine andere Weise schadlos zu halten", als dass er dann "sein Weibchen erkannte". Die "nächtliche Glükseeligkeit" habe trotz der schweißtreibenden Arbeit am Tage den Verlust "hinlänglich ersetzt" (ebd., 58). Am Ende dieses Abschnittes verteidigt Lenz die Freimütigkeit seiner Ausführungen, da er "die verwünschte Dezenz, die alle diese Gegenstände überfirnißt" bewusst nicht unterstützen wolle.
Im zwiespältigen Geschlechtstrieb lägen also - wie oft in der Natur - "Zerstörung und Erbauung in einem Keim beisammen" (ebd., 60). Ausleben oder Ausrotten, das sei die Frage. In den göttlichen und menschlichen Gesetzen sei die Ehe als "grosse von Gott etablirte Ordnung, in der wir diesen Trieb mäßig stillen dürfen" vorgegeben. Dementsprechend empfiehlt er seinem Publikum: "Also – nur frisch geheirathet, ihr Herren" (ebd., 61). Für die nicht Heiratsfähigen gelte das eherne Prinzip: "Alsdenn diesen Trieb befriedigen ist Sünde."
Bei Betrachtung der Wechselwirkungen von Triebhaftigkeit und Charakter sei festzustellen, dass der Sexualtrieb mehr Sinn habe als nur Fortpflanzung und Vergnügen. Sexualität sei die "Mutter aller unserer Empfindungen" und der richtige Umgang mit ihr folglich Ansatzpunkt für die Herausbildung von Moral und Tugend. "Die Zähmung unsers Geschlechtstriebes" sei also "der erste Grundsatz in unserer Moral" (ebd., 69), der Trieb müsse "nur geleitet, nicht getödtet" werden (ebd., 70). Askese und Vermeidungsstrategien seien nutzlos, da sie meist erst praktiziert würden, "wenn die Stunde der Versuchung schon vorübergegangen ist und wir untergelegen haben" (ebd., 71).
Den unverheirateten Mitmenschen ohne Aussicht auf legitime Triebbefriedigung präsentiert Lenz am Schluss seiner Ausführungen die Pointe der 'Vorlesungen': Weil "unsere Seele von der Natur ist, daß sie nicht gern ein Vergnügen aufgibt, wenn nicht auf der Stelle ein anders wieder da ist, es zu ersetzen", sei der Trieb durch "empfindsame Liebe" zu ersetzen. Lenz empfiehlt: "Seht ihr einen Gegenstand, der euern Geschlechtertrieb rege macht, versucht ob ihr ihn lieben könnt." (ebd., 72).

2.3.1 Zu Triebpsychologie und Menschenbild

Folgt man einer Formulierung im 'Spiegel'-Artikel, dann sind "Ehe oder Entmannung" die Pole, zwischen denen Lenz die Bewältigung der Konkupiszenz diskutiert. Dazwischen liegt die schließlich empfohlene Sublimationslösung: "die empfindsame Liebe". Diese Denkweise, nach der Triebprobleme in Empfindsamkeit verwandelt werden könnten, war wohl für das 18. Jahrhundert eher untypisch: "Kaum ein Werk empfahl den lizenzierten 'Genuß' als Heilmittel." (Sauder 1990, 176). Die "Sexualität als Kehrseite der Empfindelei" (ebd., 172) war unerwünscht und meist tabuisiert, die empfindsame Tendenz stand bei einigen Kritikern unter dem Generalverdacht, versteckte Sinnlichkeit zu transportieren. Lenz dreht diesen Verdacht sozusagen offensiv und bejahend um, wenn er die Empfindsamkeit zur Triebumleitung funktionalisiert. Er, der sich gegen "verwünschte Dezenz" und für "Freimüthigkeit" ausspricht, hat mit der Einbindung des Sexuellen in die moralisch kontrollierte Gefühlswelt sozusagen eine triebpsychologische Arrondierung des Menschenbildes vollzogen.
Christoph Weiß' These, "kein anderer deutscher Autor dieser Zeit" habe "der Sexualität einen vergleichbaren Stellenwert in seiner Anthropologie zugewiesen" (Weiß, 1994a, 97*), die den Stellenwert der Lenzschen Position unterstreicht, wird von manchen Autoren geteilt (vgl. Zierath, 1995, 40) oder in relativierter Form aufgegriffen, so z.B. bei Lütkehaus oder Unger. Auch Gert Sautermeister findet "die in ihrer Radikalität frappierende" Formulierung vom Geschlechtertrieb als "Mutter aller unserer Empfindungen" besonders "denkwürdig", weil "die Sublimierung des Sexuellen bei Lenz nicht mit seiner Verflüchtigung" einher gehe, es vielmehr als "Wärmestrom" für höherwertige Empfindungen und Kräfte fungiere (Sautermeister, 1997, 82). Nach Luserke und Marx sei die genannte Kernthese sogar "an Radikalität und emanzipatorischer Gesinnung kaum zu überbieten", sie antizipiere immerhin Ansichten der viel späteren Psychoanalyse. Nur aufgrund der "patriarchalen Diskursform" der 'Vorlesungen' bleibe diese Radikalität noch "gebannt" (Luserke/Marx, 1995, 412).
Als Hemmnis einer vermeintlichen "Enttabuisierungswut" ist auch die traditionelle Säfte-Lehre zu nennen, die, auf den Mediziner Galen zurückgehend, den Sexualtrieb als schwächende, Krankheit und Tod bringende Neigung beschrieb. Lenz war dieser Lehre verhaftet. Andrea Velez ist der Auffassung, dass der früh mit Lenz bekannt gewordene Livländer Prediger August Wilhelm Hupel als Hauptvermittler dieser negativen Triebauffassung in Frage komme (Velez, 1996, 53). Er habe ihm auch das Beispiel des Origenes nahegebracht und vor der "Versklavung" gewarnt, die ein frei wirkender Geschlechtstrieb bewirken könne.
Insgesamt kann das bei Lenz zweifellos stark vorhandene, religiös motivierte Harmoniebedürfnis im Spannungsfeld von gottgegebenen Empfindungen, praktisch erfahrener eigener Begierde, Salzmannscher und neologischer Glückseligkeitstheologie, Hupelschen Verschneidungsempfehlungen und einer zeitgenössischen "empfindsamen Tendenz" sozusagen den Schmelztiegel geliefert haben, in dem sich Lenz seine konkupiszenzbasierte Anthropologie "zusammenbraute". Die persönliche Tragödie unerfüllter Verliebtheiten, die ihn sein Leben lang schmerzvoll begleitete, mag dabei sozusagen der 'Stachel im Fleisch' gewesen sein. Zumindest theoretisch konnte Lenz die Begierde als Wirkmechanismus, der den Menschen zu tätiger, empfindsamer Liebe beflügeln kann, in Einklang bringen mit Evangelium, menschlicher Natur, Vernunftgebrauch und – in neologischer Perspektive – auch mit der Offenbarung.

3. Thesen und Fragestellungen

Mit dem Verhältnis zwischen 'Sturm und Drang' und Aufklärung und der Bedeutung der 'Vorlesungen' für die Interpretation von Lenz' poetischem Werk sollen hier noch zwei weiterführende Themen angerissen werden.
Nach Ludger Lütkehaus ist der Verfasser der 'Vorlesungen' ein "empfindsamer Dichter und Philosoph mit dem Herzen eines Stürmers und Drängers, dem Kopf eines Aufklärers und der Ausstattung eines unverschnittenen Origenes". Ein zwischen den Epochenetiketten vagabundierender Lenz wird auch von Thomas Ehrsam wahrgenommen, da sich in den 'Vorlesungen' typische 'Sturm und Drang'-Elemente wie "provokantes Aufbegehren" und "rhetorischer Überschwang" mit dem für die Aufklärung typischen "Glauben an die Vernunft" träfen, worin sich das "Janusgedicht des Sturm und Drang" nur zu gut zeige (Ehrsam, 1995, 26). Auch Regine Fourie sieht die aufklärerischen Elemente des Sturm und Drang erneut bestätigt (Fourie, 1996, 159). Die Vermischung der Aspekte sei nach Lütkehaus gar so fortgeschritten, dass "die absurden Epochenbegriffe nicht mehr greifen". Dem kann entgegengehalten werden, dass die praktische Vermischung begrifflich unterscheidbarer Aspekte keinen Einwand gegen die Begrifflichkeit hergibt. Begriffe sind ja gerade Abstraktionsmittel angesichts konkreter Mischformen. Als sicher kann aber gelten, dass die "holzschnittartige" Gegenüberstellung von rationalistischer "Vernunftherrschaft" in der Aufklärung und gefühlsbetontem, irrationalistischem Emanzipationswillen im 'Sturm und Drang' der wissenschaftlichen Vergangenheit angehören. Wenn Christoph Weiß seinen Kollegen Luserke und Marx derartige Schemata unterstellt, kann das wohl nur auf Missverständnissen oder sonstigen Ungereimtheiten beruhen. Denn alle drei genannten 'Ableger' der "Saarbrücker Schule" (Luserke/Marx, 1995, 408) unterstreichen immer wieder die von Gerhard Sauder geprägte Formel vom 'Sturm und Drang' als "Dynamisierung und Binnenkritik" der Aufklärung (vgl auch Weiß, 1994a, 94*). Auch Marx und Luserke erteilen einer "Dichotomie" von Aufklärung und 'Sturm und Drang' eine klare Absage (Luserke/Marx, 1995, 408). Insofern zeigt sich anhand der 'Vorlesungen' zwar erneut die Verwobenheit der beiden Epochenbegriffe, die mit der bestehenden Theoriebildung der jüngeren Forschung aber bereits adäquat differenziert und aufeinander bezogen werden können.
Nach Luserke und Marx verdankt sich das besondere Interesse an den 'Vorlesungen' auch "der Hypothese, der Text könne als eine Art von theoretischem Überbautext für die fiktionalen Werke von Lenz gelesen werden" (Luserke/Marx, 1995, 414). Sie weisen diese Annahme unter anderem mit dem Verweis auf die Textsortendifferenz zurück: Eine theoretische Schrift sei viel stärker in traditionelle Diskurse eingebunden als z.B. das gerade im 'Sturm und Drang' besonders innovative dramatische Medium. Eine "bürgerlichen Kontinuitätsvorstellung im Denken von Autoren" sei grundsätzlich nicht anzunehmen. Damit greifen sie wiederum Christoph Weiß an, der behauptet hatte, dass die 'Vorlesungen' teilweise "auch neues Licht auf bekannte Texte von Lenz werfen" (Weiß, 1994a, 101*). Auch diese Kontroverse ist von einem gereizten Grundtenor geprägt. Es ist sicherlich richtig, dass ein Autor in verschiedenen Texten jeweils spezifisch nach Textsorte und Diskurskontext agiert. Man kann Christoph Weiß nicht ernsthaft unterstellen, er betreibe die Logik: "was der Autor in dem einen Text denkt, denkt er bestimmt auch in einem anderen" (Luserke/Marx, 1995, 411). Eine solch bornierte Herangehensweise wird von Weiß an keiner Stelle vertreten. Die anthropologischen oder religiösen Überzeugungen eines Autors können zweifellos einen vorsichtig zu berücksichtigenden Hintergrund für die Analyse poetischer Texte darstellen. Die Fülle der dabei auftretenden Probleme sollten Gegenstand sachlicher Diskussion bleiben. Beispiel einer solchen Interpretation ist die Lyrikanalyse von Gert Sautermeister, der in seiner Heranziehung der Lenzschen Geschlechtsphilosophie bewusst "ungebrochene Relationen im Sinne einer Widerspiegelung" vermeiden will (Sautermeister, 1997, 82). Vielleicht ließe sich an dieser Arbeit die Diskussion um das "Licht", das ein Text auf den anderen werfen kann, konkretisierend fortsetzen

A. Literaturangaben


Primärliteratur

Jakob Michael Reinhold Lenz: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen. Mit einem Nachwort hrsg. von Christoph Weiß. St. Ingbert 1994.

Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm. München, Wien 1987.

Johann Daniel Salzmann: Kurze Abhandlungen über einige wichtige Gegenstände aus der Religions- und Sittenlehre. Faksimiledruck der Ausgabe von 1776. Mit einem Nachwort von Albert Fuchs. Stuttgart 1966.


Kommentare und Analysen zu den 'Vorlesungen'

Ehrsam, Thomas. 1995. "Unverschämte Sachen". Eine Entdeckung: J.M.R. Lenz' "Philosophische Vorlesungen". In: Schweizer Monatshefte für Politik, Wirtschaft und Kultur. 75. Jahr. Heft 7/8. Zürich. S. 24-27.

Luserke, Matthias / Marx, Reiner. 1995. Nochmals S[turm] u[nd] D[rang]. Anmerkungen zum Nachdruck der Philosophischen Vorlesungen von J.M.R. Lenz. In: Luserke 1995b. S. 407-414.

Okada, Tsuneo. 1996. Über "Philosophische Vorlesungen". In: Goethe-Jahrbuch (Tokyo). Nr. 38. S. 215-233.

Sommer, Andreas Urs. 1995. Theodizee und Triebverzicht. Zu J.M.R. Lenzens "Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen". In: Lichtenberg-Jahrbuch. S. 242-249.

Sauder, Gerhard. 1994. Konkupiszenz und empfindsame Liebe. J.M.R. Lenz' "Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen". In: Lenz-Jahrbuch. Band 4. S. 7-29.

Velez, Andrea. 1996. Wie "unverschämt" sind Lenz' "Philosophische Vorlesungen" ? In: "Ich aber werde dunkel sein". Ein Buch zur Ausstellung J.M.R. Lenz. Jena. S. 46-57.

Weiß, Christoph. 1994a. <Nachwort>. In: Lenz: Vorlesungen. S. 73*-111*.


Rezensionen

Unger, Thorsten. 1996. <Rezension zu Lenz: Vorlesungen>. In: Das 18. Jahrhundert. Jahrgang 20. Heft 1. S. 95-97.

Unger, Thorsten. 1996b. <Rezension zu Luserke 1995b>. In: Das 18. Jahrhundert. Jahrgang 20. Heft 2. S. 231-234.

Fourie, Regine. 1996. <Rezension zu Lenz: Vorlesungen>. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik. S. 158-160.


Presseartikel zu den 'Vorlesungen'

Lütkehaus, Ludger. 1994. Der erotische Gottesbeweis. In: Die Zeit. Ausgabe vom 21.1.1994. S. 45.

[Keine Autorangaben]. 1994. "Weibchen erkannt". In: Der Spiegel. Ausgabe vom 31.1.1994. S. 178.


Weitere Literatur

Aner, Karl. 1929. Die Theologie der Lessingzeit. Halle. [Reprint: Hildesheim 1964]

Fuchs, Albert. 1966. <Nachwort>. In: Salzmann: Abhandlungen. S. 1*-32*.

Günther, Hansjürgen. 1974. Das Problem des Bösen in der Aufklärung. Frankfurt am Main.

Hirsch, Emanuel. 1949. Geschichte der neueren evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. 7. Buch. Die deutsche christliche Aufklärung im Zeitalter Semlers und Lessings. Gütersloh.

Kemper, Hans-Georg. 1997. Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 6: Empfindsamkeit. Tübingen.

Lexikon für Theologie und Kirche. 1998. Hrsg. von Walter Kasper. Dritte, völlig neu bearbeitete Auflage. Freiburg im Breisgau.

Luserke, Matthias. 1995. Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart.

Luserke, Matthias (Hrsg.). 1995b. J.M.R. Lenz im Spiegel der Forschung. Hildesheim.

Luserke, Matthias / Marx, Reiner. 1992. Die Anti-Läuffer. Thesen zur SuD-Forschung oder Gedanken neben dem Totenkopf auf der Toilette des Denkers. In: Lenz-Jahrbuch. Band 2. S. 126-150.

Müller, Wolfgang Erich. 1984. Von der Eigenständigkeit der Neologie Jerusalems. In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie. Band 26. S. 289-309.

Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 1957. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Dritte, völlig neu bearbeitete Auflage. Hrsg. von Kurt Galling. Tübingen.

Rudolf, Ottomar. 1970. Jakob Michael Reinhold Lenz – Moralist und Aufklärer. Bad Homburg.

Sauder, Gerhard. 1990. Empfindsamkeit – Sublimierte Sexualität. In: Empfindsamkeiten. Hrsg. von Klaus P. Hansen. Passau. S. 167-177.

Sautermeister, Gert. 1997. "Unsere Begier wie eine elastische Feder beständig gespannt". Der "Geschlechtertrieb" in Lenzens Theorie, Lyrik und Dramatik. In: Etudes Germaniques. No.1. S. 79-98.

Schollmeier, Joseph. 1967. Johann Joachim Spalding: Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung. Gütersloh.

Stöber, August. 1842. Der Dichter Lenz und Friederike von Sesenheim. Basel.

Stöber, August. 1855. Der Aktuar Salzmann, Goethes Freund und Tischgenosse in Straßburg. Mülhausen.

Weiß, Christoph. 1994b. Jakob Michael Reinhold Lenz' 'Catechismus'. In: Lenz-Jahrbuch. Band 4. S. 30-67.

Werner, Franz. 1981. Soziale Unfreiheit und 'bürgerliche Intelligenz' im 18. Jahrhundert. Der organisierende Gesichtspunkt in J.M.R. Lenzens Drama 'Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung'. Frankfurt/Main.

Zierath, Christof. 1995. Moral und Sexualität bei J.M.R. Lenz. St. Ingbert.